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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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man habe die Wirtschaft aufgeben müssen. Er sei im April 1899 geboren. Vom Fenster aus, zu dem er sich hingedreht hatte, zeigte er, sich umständlich krümmend und mit dem Handrücken über die Scheibe wischend, seine »Heimat«. Zwei Stunden zu Fuß sei sie entfernt, bei klarer Luft könne man die beiden weißen Häuser sogar sehen. An der linken Hand, so bemerkte Ascher, fehlte ihm der Daumen. Er war vor einigen Jahren in die Maismahlmaschine gekommen. Seine Tochter habe ihn befreien müssen, da der Schwiegersohn vor Schreck davongelaufen sei. Ascher fiel auf, wie gleichgültig der alte Mann von sich selbst sprach. Es hatte den Anschein, als machte er niemanden für seine Lebensumstände verantwortlich, auch nicht sich selbst. Er lebte, so kam es ihm vor, mit seinen Zerstörungen, als bemerkte er sie nicht.
    Nachdem Zeiner zwischendurch das Haus betreten und seinen Schwiegervater nachträglich vorgestellt hatte, ließ der alte Mann zwei große Glasflaschen bringen. Auf dem Grund der einen lag eine dicke Schicht von Maiglöckchen: Die entfärbten, durchsichtigen Blüten waren aufeinandergesunken und stiegen, als er die Flasche schüttelte, in der nun blasentreibenden weinfarbenen Flüssigkeit bis zum Korken auf, um gleich darauf wieder langsam zu Boden zu sinken. Die andere Flasche war mit einer dunklen braunen Brühe aus Tannennadeln gefüllt. Die Zusammensetzung der Flüssigkeit verschwieg er. Eine Frau, so erklärte er, sei ihm im Traum erschienen und habe ihm aufgetragen, die Menschen zu heilen. Er ließ durch seine Tochter für Ascher ein kleines Fläschchen mit seinem »Geist« anfüllen. Er saß stumm da und atmete schwer. Ascher fragte ihn, ob er sich auch selbst behandle. Der Alte antwortete, er schmiere sich Olivenöl auf die Brust und trinke es auch. Davon würde ihm besser. Wenn im Winter eine Verkühlung dazukomme, setze er sich eine Kröte auf die Brust, die er mit einer Schnur an seinem Hals befestige. Er riet auch Ascher dazu. Dann kam Zeiner zurück und versprach, ihn am Freitag zur Bahn zu bringen.
    »Sind Sie schon gesund?« fragte er.
    Ascher erklärte, daß er in die Stadt fahre, um Bekannte zu besuchen.
    Das sei etwas anderes, antwortete Zeiner nachdenklich. Er bot ihm ein Glas Wein an, das sie stumm und rasch in der Kammer, in der die Flaschen gelagert waren, austranken. Ascher bemühte sich dabei, ebenso rasch zu trinken wie Zeiner.
    Er ging in sein Haus zurück und saß eine Zeitlang vor dem Fenster, holte das Fernglas aus der Tischlade und sah den Menschen auf den Feldern zu. Zuerst erblickte er nur die Farbe Grün, dann die ruckartigen Bewegungen eines Menschen. Es war eine Frau mit einem blau und weiß gemusterten Kopftuch, das sie tief in die Stirn gezogen hatte. Ihr Gesicht war glatt, die Augen waren auf den Boden geheftet, manchmal drückte sie ihre Wirbelsäule durch. Dann bemerkte er die kleinen lebhaften Augen. Wenn sie jemandem etwas zurief, lächelte sie kurz, um sofort wieder ernst auszusehen. An ihren Ohrläppchen konnte Ascher winzige Goldringe erkennen. Er wanderte weiter zum nächsten. Der Mann hatte schütteres Haar, eine gekrümmte Nase und wulstige Lippen. Lange bewegte er seinen Kopf nicht. In seinem Gesicht konnte Ascher keine Bewegung erkennen. Alles, was er entdeckte, war Anstrengung. Wenn sich einer aufrichtete und jemandem etwas zurief, bemühte sich Ascher, etwas zu verstehen, aber es blieb still. Er sah nur, wie sich ihre Münder bewegten und die Zähne zum Vorschein kamen. Manchmal konnte er minutenlang keine Veränderung wahrnehmen. In ihrer stummen, verbissenen Arbeit sahen sie bewußtlos aus, und er rechnete nach, wie lange sie auf diese Weise arbeiteten und wie lange sie schliefen. Andererseits kamen ihm die Menschen schön vor. Jeder Handgriff mußte voll Sinn sein, weil er mit so großer Sorgfalt ausgeführt wurde. Aber er konnte an diesen Gedanken nicht recht glauben, denn er hatte eher den Verdacht, daß im Augenblick ihrer Anstrengungen nur verschiedene Formen von Schmerz und Leere in ihnen waren. Er nahm seine Brille herunter, um besser zu sehen, und preßte die Okulare gegen seine Augenhöhlen. Auch sein eigenes Gesicht mußte bei der Arbeit einen ähnlichen Ausdruck haben. (Er erinnerte sich daran, daß er als Kind immer hatte wissen wollen, wie er schlafend oder tot aussehen würde. Er hatte sich vor den Spiegel gestellt und sich mit blinzelnden Augen betrachtet, aber er war nicht zufrieden mit seinem Anblick gewesen, denn er hatte bemerkt, daß das

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