Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
Blinzeln sein Gesicht veränderte.) Um den Mund einer anderen Frau hatten sich senkrechte, tiefe Falten gebildet, als habe sie viele Tage ihres Lebens pfeifend oder Luft saugend zugebracht, ihr Rücken war rund und kräftig, sie war so tief nach vorne gebückt, daß sie einem Tier ähnlich sah. Sie schien mit unendlicher Geduld auf etwas in der Erde zu starren, wie Katzen stundenlang in einer Wiese vor einem Mauseloch sitzen. Aber in ihren Augen war keine Aufmerksamkeit, sondern Abwesenheit. Ascher konnte es deutlich erkennen. Er suchte diesen Ausdruck in den anderen Gesichtern und fand ihn überall. Einmal nahm der Mann den Mund voll Luft und blies sie aus, die Frauen rückten die Kopftücher zurecht oder wischten sich mit dem Handrücken über die Stirne. Dann verharrten sie wieder in ihren Körperhaltungen. Ein Hund kam über das Feld gelaufen und sprang mit wedelndem Schwanz herum, zwischendurch stützte sich eine der Frauen auf den Werkzeugstiel und blickte geradeaus zum Horizont, nach einer Weile verrichtete sie wortlos ihre Arbeit weiter. Jedesmal, wenn Ascher an einem Mund erkannte, daß er sprach, und er das Sprechen nicht hörte, sondern nur die großen, scharfen und farbigen Abbildungen der Menschen so nahe vor seinen Augen hatte, daß er sie vermeintlich berühren konnte, war ihm, als blicke er in eine andere Welt. Sie hatte den Anschein des Sichverflüchtigenden, plötzlich konnte sie sich aufgelöst haben. Dann aber nahm Ascher wieder die leeren Gesichter wahr, die alle Mühe und Anstrengung ausdrückten.
    Durch die Stille und Zeiners Wein war er müde geworden und eingeschlafen. Nach einer Stunde wachte er auf, ohne im ersten Augenblick zu wissen, wo er sich befand. Ein Traktor brummte vor dem Haus. Er stieg die steile Holztreppe hinunter. Im Flur kam ihm Golobitsch mit der Frau und den Kindern entgegen. Die Kinder hatten die Maiskolben an den Federn zusammengehängt und über die Schultern geworfen. Auf dem kleinen Maisfeld arbeitete bereits die Witwe mit ihrer Stiefschwester und dem älteren Sohn. Während die Kinder den Mais auf den Dachboden schleppten, durchstreiften die Erwachsenen den Acker und rissen die Kolben ab. Früher einmal, sagte die Witwe zu Ascher, hätten sie sechs Wochen lang im Herbst Tag für Tag diese Arbeit verrichtet und am Abend dann noch den Mais geschält. Manchmal sei Schnee gefallen, das habe die Arbeit schwerer gemacht. Ascher hörte die Kinder im Haus die Stiege hinauf- und hinunterpoltern. Eines weinte. Der Sohn der Witwe half Golobitsch die Pflanzen auf einen Haufen zu werfen, nachdem die Frauen angefangen hatten, sie abzusicheln. Zusammenbinden wollten sie den Haufen, sagte Golobitsch, erst in der Früh, wenn die Pflanzen feucht seien und dabei nicht brechen würden. Inzwischen hatte Golobitsch den Teppich und eine Kiste mit Birnen in die Küche getragen, und die Kinder schütteten den ungeschälten Mais von den Feldern in Körbe und leerten sie ins Vorhaus. Schon längst hatte Ascher bemerkt, daß die Stiefschwester der Witwe vom Lastentragen verbogene Beine hatte. Ihr Gesicht erweckte den Eindruck, daß sie sich mit etwas anderem beschäftigte. Der Alltag schien sich in Benommenheit und Momenten von Aufschrecken abzuspielen. Im Vorraum roch es süß nach Mais. Als er allein im Haus war, erschrak er von einem Geräusch aus dem Vorzimmer, es waren aber nur die Maisstritzel, die die Kästen halb verschüttet hatten und vom Haufen rutschten. Golobitsch kam, setzte sich auf den Maishaufen und riß von einigen Kolben die Federn herunter, stülpte die darunterliegenden nach vorne und verknüpfte die Federn der Kolben miteinander. »So geht das«, sagte er, nachdem er mehrere Bündel geknüpft und in einen Korb geworfen hatte, den er auf den Dachboden trug, wo er die Bündel an den Sparren aufhängte. Er fuhr dann mit den Frauen und den Kindern davon. In der Küche lag eine erschlagene Maus in einer Falle. Der Eisendraht hatte sich tief in das Genick eingegraben. Ascher bemerkte auch die kleinen Zähne und die winzigen, runden schwarzen Augen, die hervorgetreten zu sein schienen. Er hatte Kollegen zugeschaut, wie sie Mäuse, Ratten und Frösche seziert hatten, und ihre Sorgfalt, ihre Geduld, die Langsamkeit, mit der sie vorgingen, hatten die toten Tiere wieder in komplizierte Wesen zurückverwandelt. Ihr Tod hatte sie nur in eine andere Ordnung eintreten lassen, und diese Ordnung hatte ihn beruhigt. (Er war sich jetzt sicher, daß er alles, was er wahrgenommen hatte,

Weitere Kostenlose Bücher