Der stille Ozean
gehabt, unbrauchbar zu sein. Vielleicht, so hatte er überlegt, sollte er sich den Menschen auf dem Land zu erkennen geben. Er hatte gesehen, wie schlecht ihre medizinische Betreuung war. Früher hatten sie die Ärzte selbst bezahlen müssen, weshalb sie noch immer Scheu verspürten, einen Doktor aufzusuchen. »Es wird sich ergeben«, hatte er sich zum Schluß gesagt und versucht, an etwas anderes zu denken. Am nächsten Morgen hatten die Blätter im Wald einen weißen Rand aus glitzernden Eiskristallen. In den Wiesen standen vereinzelt Große Bibernellen, Hundspetersilien und Wiesenbärenklauen, mit Schirmen aus Doldenblüten, die Ascher an Gebilde aus Brüsseler Spitzen denken ließen, jetzt, von Reif überzogen, machten sie auf ihn den Eindruck komplizierter Eisgebilde, die vom Himmel gefallen waren. Es war noch früh. Er beugte sich über das Gras und bewunderte die gefrorenen Kleeblüten, die wie stachelige Schneebällchen zwischen den Halmen lagen. Er ging durch den Graben nach St. Ulrich, kaufte Proviant und spazierte durch das Dorf. Am Dorfeingang stand eines der beiden Kaufhäuser, in dem es auch eine Gaststube gab. Schräg gegenüber lag das zweite Kaufhaus, beide waren neu gebaut und ähnelten einander. Vom zweiten Kaufhaus sah man in den Friedhof. Als Ascher Proviant gekauft hatte, hatte er aus einer Bemerkung der Frau entnommen, daß ihr Mann der Obmann des Kameradschaftsbundes sei. Die Vereinsfahne hatte Ascher hinter einem Glaskasten im Ballsaal des Kirchenwirts gesehen. Unmittelbar an den schräg auf einem Hang liegenden Friedhof schloß sich die Kirche mit dem Pfarrhaus an, dahinter folgten Privathäuser, die neu gebaute Volksschule, das kleine, weißgestrichene Rüsthaus und ein Hügel, auf dem sich ein hölzernes Windrad klappernd drehte. Er begegnete niemandem auf der Straße. Aus den Schulklassen hörte er Kinderstimmen. Ihm fiel ein, wie er den Pfarrer kennengelernt hatte, und er entschloß sich, ihn zu besuchen. Als er die Drehklingel betätigte, bewegte sich die weiße Bespannung des danebenliegenden Fensters. Es dauerte eine Weile, dann öffnete der Pfarrer die Tür. »Sie wünschen?« fragte er zurückhaltend. »Ich hatte hier zufällig zu tun und dachte, ich besuche Sie«, antwortete Ascher.
»Kommen Sie herein«, sagte der Pfarrer ohne besondere Freude. Im Vorraum befand sich ein Schirmständer mit einem Herren- und einem Damenregenschirm. Jetzt erst fiel ihm auf, daß der Pfarrer seinen Mantel angezogen hatte und keine Anstalten machte, ihn auszuziehen. Er führte ihn in die Pfarrkanzlei, schloß die Tür und bot ihm einen Stuhl an. Die Kanzlei hatte zwei Fenster. Eines ging zur Kirche hinaus, das andere zur Schule. In der Mitte des Raumes, unter einer Lampe mit einem gläsernen Schirm, stand ein weißgedeckter Tisch, rundherum waren vier oder fünf Stühle aufgestellt, in einer Ecke ein rosafarben gestrichener Panzerschrank, vermutlich mit dem Pfarrgeld. Der Panzerschrank war alt und verschnörkelt. Ein Schreibtisch war an die Wand gerückt, auf dem sich verschiedene Gegenstände befanden: Tintenfaß, Löschwalze, Briefbeschwerer und so weiter. In einer anderen Ecke sah Ascher einen Kasten mit Glastüren und dahinter die Pfarrbücher. Der Pfarrer hatte sich im Mantel ihm gegenüber gesetzt und wartete. Sein Gesicht war lang und schmal, Ascher konnte es nun deutlich erkennen, die Nase gebogen, der Mund hing herunter, wobei die Oberlippe verdickt war und, wie Ascher später auffiel, bei langem Schweigen an der Unterlippe festklebte, von welcher sie sich erst nach einigen Worten trennte. Seine vollen, dunklen Haare hatte er sorgfältig gekämmt, am Hinterkopf standen einige weg. Die Brille hatte einen dunklen Hornrahmen. Quälte ihn etwas? Wenn er litt – voran? Wie konnte ein Mensch in Freiheit den Eindruck eines lebenslänglich Verurteilten machen? »Ich störe Sie hoffentlich nicht?« fragte Ascher.
Der Pfarrer schwieg und schüttelte den Kopf. Seine weißen Hände lagen auf der Tischplatte. Plötzlich fragte er, worum es sich handle? Die Frage erstaunte Ascher. Hatte er ihm nicht gesagt, daß er ihn nur besuchen wollte? Und doch war er nahe daran, sich mit ihm auszusprechen. War es, daß der Pfarrer ihn nicht anschaute, sondern aus dem Fenster blickte, war es, daß Ascher spürte, welche Belästigung er für ihn darstellte? – Jedenfalls ging etwas von ihm aus, was Ascher unsicher machte. Er antwortete, daß es sich um nichts Besonderes handle, man habe sich vor zwei Wochen
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