Der stille Ozean
sich ein weiter, umgebauter Acker. Nichts mehr wies auf das Bergwerk hin. Den zweiten Zugang hatte man zur Gänze verschüttet. Ursprünglich hatte es zwei Bergwerke gegeben. Beide gehörten privaten Besitzern. Der erste sperrte zu, weil sich der Abbau nicht mehr auszahlte, der zweite, weil er zu alt geworden war und er keinen Sohn hatte. Darüber hinaus hätte es sich vielleicht noch zehn oder fünfzehn Jahre gelohnt, Kohle abzubauen. Die Abbaustellen, hatte die Witwe erzählt, waren nur 50 Zentimeter hoch gewesen. Man habe liegend arbeiten müssen. Unter Berg hätten Pferde die Hunte gezogen, auch die Pferdeställe hätten sich unter der Erde befunden. Es habe keine automatische Luftzufuhr gegeben: Ein Mann habe die Aufgabe gehabt, händisch den Frischluftventilator in Gang zu halten. Im neueren Bergwerk hätte eine riesige Dampfmaschine, die Tag und Nacht in Betrieb gewesen sei, für Energie gesorgt. Die Bauern hätten nach dem Dienst noch den Hof bestellt und Vieh gefüttert, trotzdem hätten sie es bedauert, daß das Bergwerk habe geschlossen werden müssen, denn nun müßten sie wesentlich weiter zur Arbeit fahren. Der Mann, der bei der Wahlversammlung der Volkspartei Zwischenrufe gemacht habe – Ascher hatte ihr davon erzählt –, sei Betriebsrat gewesen. Er sei über 20 Jahre Bergmann gewesen und habe, nachdem der Betrieb geschlossen worden sei, keine andere Arbeit gefunden. Natürlich sei er Sozialist gewesen. Auch Kommunisten habe es gegeben. Seit das Bergwerk geschlossen worden sei, würden es jedoch immer weniger. Ein anderes Mal erzählte sie vom nationalsozialistischen Bürgermeister, der in den letzten Kriegstagen von Partisanen aufgehängt worden sei. Die Nationalsozialisten hätten jedoch zahlreiche Anhänger gehabt, weil es viele Verschuldete gegeben habe, die durch ein Gesetz über Nacht schuldenfrei geworden seien. Andererseits hätten die Bauernsöhne im Krieg die Welt gesehen: Nach Rußland und Afrika seien sie gekommen, einer, ihr Nachbar, sei Unterseebootmatrose gewesen. Aber natürlich hätte fast jede Familie einen Vater, Sohn oder Bruder verloren. Sie kenne überhaupt keinen Hof, bei dem nicht wenigstens einer gefallen sei. Ascher hatte an Kapellen oder Friedhofsmauern die Tafeln mit den Namen von Gefallenen bemerkt. In Gleinstätten gab es ein Denkmal für die Toten beider Weltkriege. Der Engelsfigur auf dem Denkmal fehlte der Kopf, die Namenstafeln und Kanonenhülsen vor dem Denkmal waren von Thujen überwachsen. Er hatte auch an einem Sonntag den Aufmarsch des Kameradschaftsbundes gesehen. Die Männer hatten die gestickte Vereinsfahne getragen und waren in Steireranzügen hinter ihr hermarschiert, und die Ortskapelle hatte einen Marsch gespielt. Wenn die Menschen vom Kameradschaftsbund sprachen, sagten sie die »Heimkehrer«. Die meisten waren alt, von den jungen, die den Wehrdienst abgeleistet hatten, traten nur wenige bei.
Eines Tages kam Golobitsch mit dem Motorrad und erzählte, daß ein Mann, der in der Nähe von Haslach wohne, ein zwölfjähriges Mädchen mißbraucht habe. Er habe sie in sein Haus gelockt und ihr Geld versprochen, dann habe er sich Frauenkleider angezogen und allmählich ihr Vertrauen gewonnen.
Er überredete Ascher, ihn nach Haslach zu begleiten. Das Haus des Mannes lag am Ortsausgang. Ascher sah von weitem einige Menschen davor stehen, ein dicker Gendarm fuhr gerade auf einem Moped davon.
»Haben sie ihn schon?« fragte Golobitsch, während er anhielt und vom Motorrad stieg.
»Ja«, antwortete eine der herumstehenden Frauen. »Sie haben ihn aus dem Haus geführt und mit dem Auto weggebracht.« Sie war groß und mager und trug einen dunklen Mantel und Hausschuhe. »Hat er etwas gesagt?«
»Nein.«
Das Haus, sah Ascher, bestand nur aus einem Zimmer und einem kleinen Vorraum. Vor einem der drei Fenster standen Bienenkästen, die mit Plastiktüchern zugedeckt waren, darauf lagen Baumstöcke.
»Er ist kein schlechter Mensch«, sagte eine Frau. »Vor zehn Jahren hatte er einen Unfall, dabei hat er sich den Kopf verletzt. Eine Zeitlang war er Straßenarbeiter, dann zog er plötzlich schwarze Kleider an und behauptete, er sei Priester.« Er habe den Pfarrer in St. Ulrich belästigt, indem er ihn häufig besucht und »lateinisch« mit ihm gesprochen habe. Er könne natürlich kein Lateinisch. Schließlich habe der Pfarrer ein Guckloch in seine Tür einbauen lassen, und wenn der Mann angeläutet habe, habe er nicht mehr geöffnet. Mehreren Frauen hätte er
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