Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
getroffen, und nun sei er zufällig vorbeigekommen. »Ich habe heute wenig Zeit«, sagte der Pfarrer ausweichend.
    In einer Stunde bekomme er Besuch, da würden Leute zu ihm kommen, um Blumen abzuholen … er habe überhaupt wenig Zeit.
    Ascher schwieg beschämt. Er brachte nicht die Kraft auf, sich zu erheben und zu gehen. Weshalb hatte er den Mann besucht? War er ihm nicht schon bei der ersten Begegnung abweisend vorgekommen? »Es war nur interessehalber, weshalb ich Sie aufgesucht habe«, sagte er. »Sehen Sie, ich wollte wissen …«
    Der Pfarrer sah ihn mißtrauisch an und wandte sich dann wieder ab. »Ich wollte wissen,«, fuhr Ascher fort, »wie die Menschen hier leben.« In den Menschen sei ein Rest von Glauben, sagte er zu Aschers Überraschung. Er sprach langsam und schien sich jeden Satz in seinem Inneren vorzusagen, bevor er ihn aussprach. Als er in die Pfarrgemeinde gekommen sei, sei er Geld sammeln gegangen für das Ausmalen der Kirche. Damals sei er zu jedem einzelnen Pfarrmitglied gegangen und er habe nirgendwo Feindschaft verspürt.
    Die Pendler seien das Problem, fügte er hinzu, sie würden Tag für Tag zur Arbeit in die Stadt fahren, und dadurch veränderten sie sich.
    Er schwieg jetzt so lange, daß seine verdickte Oberlippe sich wieder an die Unterlippe klebte. Ascher folgte seinem Blick aus dem Fenster. Draußen vor dem Schulhof sah er die mächtige Baumkrone einer Kastanie. Schulkinder gingen vor dem grünen Holzzaun des Pfarrhofes vorbei. Früher sei die Kirche viel kleiner und in gotischem Stil erbaut gewesen, dann sei sie abgerissen und in spätbarockem Stil wieder errichtet worden, sagte der Pfarrer nach einiger Zeit. Ascher erhob sich. Das Pfarrhaus, in dem sie sich befänden, sei ebenfalls schon alt. Es gehöre erneuert, fuhr er fort, dabei bückte er sich zur Wand und zeigte Ascher, während er die Feuchtigkeit der Wände erwähnte, schwarze Flecken in der Bemalung. Er begleitete Ascher zur Tür und sperrte sie auf. »Ich wußte nicht, daß Sie kommen«, sagte er entschuldigend und gab ihm die Hand.
     

11
     
    Die nächsten Tage ging Ascher zu Fuß nach Haslach und Unterhaag. Morgens erwachte er abgeschlagener, als er sich zu Bett begeben hatte. Das Aufstehen und die ersten Handgriffe im Haus kamen ihm vor, als bewegte er sich im Inneren eines Felsbrockens. Er hatte den Fuchspelz abgeholt. Die Läufe und Krallen waren erhalten geblieben, nur dort, wo die Augen waren, befanden sich im Pelz zwei Löcher. Er nahm ihn mit auf das Zimmer. Am Abend verpackte er ihn in Papier und schickte ihn mit einem Brief an seine Frau. Er ging zu ausgelassenen Fischteichen, kratzte den Belag von Schilfstengeln, von Steinen und Pfählen und betrachtete unter dem Mikroskop die Tiere, die er mit Neutralrot färbte. Die Teiche sahen oft merkwürdig aus. Ihre Böden waren mit Kalk bedeckt, damit für die nächste Fischzucht keine Krankheiten entstehen konnten. In kleinen Mulden, Senken und Wannen standen Wasserpfützen mit öligsilbrigen Kalkhäuten. Wo sich der Wasserzufluß einen Lauf gegraben hatte, zog sich eine dunkle Spur dahin, schmal und sprunghaft gezackt wie eine Ader. Ascher war um die Teiche gegangen. Die Papiersäcke, die mit Kalk gefüllt gewesen waren, lagen neben den Futterstegen. Häufig fand er Teichmuscheln, die an Ort und Stelle aufgerissen worden waren. Die Schalen lagen auf dem Boden, wie die abgerissenen Flügel eines Käfers. Innen waren sie perlmuttfarben. Er steckte sie in den Rucksack. Manchmal sah er nach einigen Tagen am Ufer seine eigenen Fußspuren, die sich inzwischen mit Wasser gefüllt hatten. Man rief ihn in einen Kuhstall, in dem eine Kuh ein Kalb bekam. Der Bauer hatte einen Strick um die Vorderhufe des Kalbes gewickelt, das Maul war schon zu sehen gewesen. Aus einem gelbroten Gebräu glitschte, nachdem sie am Strick gezogen hatten, ein lebloses Kalb hervor. Schlaff und ohne Regung lag es auf dem Boden. Ascher half, es mit frischem Heu abzureiben, sein Fell war gelblich, als sei es aus einem rohen Ei gezogen worden. Dann deckte er es mit alten Wolldecken zu, und es versuchte aufzustehen. Die Abende schienen ihm lang. Zwar machte er auf dem Rückweg im Kaufhaus Rast, aber es wurde rasch dunkel, und er fuhr dann mit irgend jemandem mit, der ihn nach Hause brachte.
    Einmal blieb er am Abend länger bei der Witwe, die ihm vom Bergwerk erzählte. Am folgenden Tag ging er in den Graben vor St. Ulrich, um die Stelle zu suchen, an der der Förderturm gestanden war. Dort erstreckte

Weitere Kostenlose Bücher