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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Bier und hörte wieder den Burschen zu.
    »Alle haben gelogen«, sagte der Blonde mit der Mütze. Er habe die Wahlversammlung der Volkspartei und der Sozialisten gehört, und jeder habe von sich behauptet, alles gemacht zu haben, in Wirklichkeit steckten beide unter einer Decke. »Das stimmt nicht«, sagte der Oberst. Er griff mit den Fingern in den Hemdkragen und entfernte kleine Haare. »Es hat sich vieles verändert, nur kaum merklich, so daß durch die kleinen und langsamen Veränderungen der Eindruck entstanden ist, nichts hätte sich geändert.« Er war vor dem Tisch stehengeblieben, hatte die Hand aus dem Kragen genommen und auf den Tisch gestützt.
    »Ich weiß«, antwortete der Bursche, »einerseits will man uns durch langsame Veränderungen einschläfern, andererseits durch Wahlen wachrütteln …« Er stand auf und bezahlte. »Von mir aus kann der Kommunist kommen«, sagte er, »schlechter kann es mir nicht gehen. Was ist für mich anders geworden? Ich arbeite wie früher. Habe ich einen Besitz? – Nein.« Er ging hinaus und startete sein Moped. Nachdem Zeiner fertig war, fuhren sie nach Arnfels, um Medikamente für den Schwiegervater zu besorgen, das hatte Zeiner inzwischen vergessen gehabt. Draußen sah Ascher auf einem weiten Acker einen Haufen Blätter brennen. Der Rauch versickerte in der Winterluft. Der Himmel, auf den sie zufuhren, war blaßgelb, und der Schnee reflektierte das gelbe Licht. Als sie Arnfels erreicht hatten, sah er auf der Erde eine Nebelschicht, die gegen die Sonne gelb leuchtete, wie Phosphordampf. Sie hielten am Ort an, und Ascher ging herum, während Zeiner beim Arzt die Medikamente besorgte. Vermutlich mußte er länger warten.
    Ein Flugzeug flog mit einem Kondensstreifen über den Horizont wie ein weißer Komet. Ascher konnte jedoch das Pfeifen und Dröhnen nicht hören. Vor der Ortseinfahrt standen zwei Gendarmen in langen, grauen Gummimänteln neben ihrem Dienstfahrzeug, einem Volkswagen, der in einer Pfütze abgestellt war. Sie blickten beide zu Ascher hinüber, der zuerst ihrem Blick nicht ausweichen wollte, dann aber seinen Kopf zur Seite drehte. KINOGASTHAUS stand über einer Eingangstür. Er bemerkte, daß das letzte S fehlte. Ein kleiner Schaukasten mit drei Bildern hing zwischen den Fenstern. Bevor er sie noch betrachtete, las er auf dem darüberhängenden Papierstreifen »Skandinavische Lust«. Er ging wieder an den Gendarmen vorbei. Diesmal beachteten die beiden ihn nicht, sondern schauten den vorbeifahrenden Autos nach, wobei sie sich an ihr Fahrzeug lehnten. Im Haus des Arztes saß Zeiner im Wartezimmer. Neben ihm hielt eine jüngere, blonde Frau ein Kind auf dem Schoß, das einen Finger in den Mund gesteckt hatte. Sie schwiegen und starrten vor sich hin. Ascher hatte sich sofort an die Stille gewöhnt. Ein Mann raunte einer alten Frau etwas ins Ohr, dann hustete er. Die meisten hielten die Hände über dem Schoß verschränkt. Nachdem Zeiner die Medikamente erhalten hatte, fuhren sie zurück. Gerade als sie an der Gärtnerei vorbeikamen, wurde in einem Glashaus das Licht angedreht, so daß Ascher im Vorbeifahren die Blätter als Schatten in der Helligkeit sah. »Jetzt müssen wir uns beeilen«, sagte Zeiner.
     
    Zu Mittag aß er bei der Witwe, spielte mit den Hunden und begleitete die Frau mit ihren Söhnen zum Nachbarn, weil sie gemeinsam junge Schweine einkaufen wollten. Der Bäcker fuhr mit dem Auto, der ältere Sohn mit dem Traktor voraus.
    »Eigentlich«, sagte die Witwe, als sie mit Ascher den lehmigen Weg zwischen den Ribiselstauden hinunterging, »hätte mein älterer Sohn weiterlernen und der jüngere den Hof übernehmen sollen.« Der ältere habe sich immer weiterbilden wollen. Sie habe ihn, als er die Schule abgeschlossen hatte, tagelang in seinem Zimmer einsperren müssen, weil er nicht habe zu Hause bleiben und Bauer werden wollen. »Nun ist es aber schon geschehen«, schloß sie. Nachdem sie an dem von Thujen überwachsenen Kreuz und der Milchbank vorbeigekommen waren, gingen sie bergauf. Die Witwe erklärte ihm, daß vor einigen Jahren der Blitz in den Stall des Nachbarn eingeschlagen habe. Das sei genau am ersten September gewesen, sie könne sich an jede Einzelheit erinnern. Es habe nicht geregnet, allerdings hätten sich dunkle Wolken zusammengezogen. Der Nachbar habe sich vor Sommerbeginn von einem fahrenden Vertreter einen Blitzableiter gekauft. Die meisten Bauern fürchteten sich vor Gewittern (manche würden, wenn es heftig gewittere,

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