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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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die Ribisel um das Haus anzulegen, der Gedanke, Obst anzubauen, sei ihm unsinnig erschienen. Sie habe nach seinem Tod sofort mit den Ribiseln begonnen, die nun ihr Haupteinkommen darstellten. Zwar sei es eine schwere Arbeit, auf dem steilen Hügel die Pflanzen zu schneiden, zu spritzen und die Ribisel zu brocken (wofür sie jedes Jahr zwei Familien aus Jugoslawien hole, die ihr für wenig Geld halfen), aber über das Obst habe sie sich zum Beispiel den Traktor ersparen können. »Trotzdem habe ich viele Schulden«, schloß sie.
    Sie waren beim Schweinezüchter angekommen und stiegen aus. Man wartete schon im Hof auf die Witwe. Gleich als sie den ersten Stall betrat, nahm Ascher den Uringeruch der Tiere wahr. Unter den Brutlampen drängten sich kleine, quiekende Schweine. Ascher fiel auf, daß er den ganzen Tag über nur geschaut und zugehört hatte und daß er vom Schauen und Zuhören so gefangengenommen war, daß er erst jetzt darüber nachzudenken begann. Er fragte sich, weshalb die Menschen sich nicht bemühten, ihr Wesen, ihre Eigenart und auch Charakterzüge, von denen sie annehmen mußten, daß sie Mißfallen erregten, zu verbergen, und er vermutete, daß es vergeblich sein mußte, etwas verbergen zu wollen. Während in der Stadt die Menschen voneinander nichts wußten, war hier jedermann die Familiengeschichte eines jeden Hofes bis zu den Großeltern und Urgroßeltern bekannt. War ein Großvater, ein Bruder, Trinker gewesen, vorbestraft, jähzornig, geizig – so wußten es alle. Sie wußten, was er verkauft und verspielt hatte, ob er seine Frau oder seine Frau ihn betrogen hatte, wußten, ob er gestohlen hatte, im Krieg gewesen war, ob er in die Kirche ging oder welche Partei er wählte. Man wußte, wann jemand wen besuchte, mit wem er zerstritten und was der Grund dafür war, und wie die wirtschaftlichen Verhältnisse aussahen. Die Menschen in der Stadt wußten von ihren Nachbarn, Familienmitgliedern und Arbeitskollegen nichts, sie wußten auch nicht, was um sie herum geschah, nur aus der Zeitung erfuhren sie etwas, was für sie aber fremd war, mit ihnen im Grunde nichts zu tun hatte und nur Gesprächsstoff und Unterhaltung lieferte. Ihm war aufgefallen, daß die Höfe eigene Namen hatten. Die Familien, die in ihnen lebten, wechselten, aber der Hofname blieb. Das führte dazu, daß jeder Bauer zwei Namen hatte: seinen Schreibnamen und den Hofnamen, der nach dem ersten Besitzer benannt worden war. Anfangs war er verwirrt gewesen, wenn er für ein und denselben Menschen plötzlich einen zweiten, anderen Namen gehört hatte, nun aber begriff er, daß diese Hofnamen ein Orientierungssystem darstellten. Da der Hofname erhalten blieb, wußte nahezu jeder auch in einem weiteren Umkreis, wo er sich befand und welche Familiengeschichte sich mit dem Hof verband. Ascher ging aus dem Stall hinaus. Die Gebäude des Schweinezüchters befanden sich unterhalb der Kirche von St. Ulrich, die er jetzt schon vom wintergoldenen Licht umstrahlt sah. Auf der braunen Wiese pickten Hühner und ein weißer Hahn. Unten im Graben sah er die ausgelassenen Karpfenteiche, die, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, flach aussahen. Der Schweinezüchter verwendete in seinem Hof Grubenhunte, die er zum Aufbewahren von Erdäpfeln und Futter verwendete, in einem war Wasser eingelassen, als Ascher nähertrat, sah er kleine Fische darin schwimmen. Der Mann kam gerade aus dem Stall und ging auf ein anderes Gebäude zu. Neben ihm lief jetzt ein Kind, das sich an seinem Hosenbein festhielt. Die Witwe wählte zwei Schweine aus, bezahlte, und der ältere Sohn zog sie mit einem Strick ins Freie. Kaum, daß der Strick um ihren Rüssel geschlungen war und der ältere Sohn sie, indem er ihnen das Gesicht zuwendete und rückwärts ging, hinauszog, schrien die Schweine entsetzt und lang anhaltend. Sie schrien auch im Kotter, als der Bursche sie wegführte. Da die Witwe noch etwas beim Kaufmann in Gasselsdorf zu besorgen hatte, stiegen sie wieder zum Bäcker in den Wagen und fuhren hinunter in die Ebene. Von weitem, als sie den Wald hinter sich gelassen hatten und auf einer Brücke die Sulm überquerten, sah Ascher den hohen Schlot und die langgestreckten roten Gebäude der Ziegelfabrik. Über die im großen Fabrikhof aufgestapelten Ziegel waren weiße Kunststoffplanen gespannt. Eine Baggermaschine stand in der Lehmerde hinter der Fabrik. »Sie wissen, daß die Fabrik dem ehemaligen Landeshauptmann gehört hat?« fragte der Bäcker. »Nach seinem Tod hat

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