Der stille Sammler
Hause sein, dass du abgehauen bist. So schlimm war es bei mir nie. Da hatte ich wohl Dusel, was?«
Ein doppeldeutiger Kommentar. Jessica antwortete nicht darauf. Sie fuhren ein paar Minuten lang schweigend weiter. »Sag mir eins, Natalie«, begann er schließlich mit leiser, todernster Stimme, »bist du darauf vorbereitet zu sterben?«
Tony und Yves zuckten zusammen, als hätte ihre Überwachungsausrüstung einen Kurzschluss. Ich biss mir auf die Lippe und bemerkte, wie mein rechter Daumen zitterte, als wäre er plötzlich von einem Eigenleben erfüllt. »Ganz ruhig, Jess. Wir sind bei dir«, flüsterte ich. »Geh weiter zur nächsten Stufe. Setz ihn unter Druck.«
Jessica klang mehr als nur ein bisschen nervös. Wenn sie das spielte, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin. Ihre Stimme zitterte leicht, was sie klein und schwach klingen ließ, wie ein Opfer. »Würdest du mich bitte aussteigen lassen, Richard?«
»Wir sind mitten im Nirgendwo«, sagte er.
»Halt an. Ich will aussteigen.«
»Was ist denn los?«
»Du machst mir Angst.« Sie klang verletzlich.
Eine lange Pause entstand, dann lachte er auf. »Hey, du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich mit dieser Sterbesache bedrohen wollte?«
»Er könnte mit dir spielen«, warnte ich sie. »Steig aus!«
»Ich will aussteigen, jetzt sofort«, sagte Jessica.
Der Mann machte keine Anstalten, die Geschwindigkeit zu drosseln. »Tut mir leid. Ich tue nur meine missionarische Pflicht. Ich bin Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Du weißt schon, Mormonen. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Ehrlich nicht. Ich meine … Sieh mich doch an.«
Offensichtlich riskierte er, den Blick von der Straße zu nehmen und sie anzuschauen, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte.
»Du hast mir vielleicht eine Scheißangst gemacht, Junge«, improvisierte Jessica.
»Tut mir aufrichtig leid«, sagte er, und diesmal klang er ehrlich zerknirscht. »Ich wollte nur herausfinden, ob du fest genug an Gott den Herrn glaubst, um den ewigen Frieden zu finden.«
»Süß«, sagte Jessica. Sie klang immer noch misstrauisch.
Eine Pause entstand, doch ich spürte, dass Jessica auf Instruktionen wartete.
»Er ist nicht unser Fisch«, sagte ich. »Wirf ihn zurück in den Teich, Rookie.«
»Ich hab’s vermasselt, nicht wahr?«, fragte Richard in diesem Augenblick. »Ich schätze, ich muss noch etwas üben, bis ich den richtigen Ton treffe.« Er klang tatsächlich betrübt, beinahe so, als wollte er im nächsten Moment den Kopf auf das Lenkrad schlagen.
»Hör mal, lass mich einfach am nächsten Truck Stop raus, okay?«, sagte Jessica.
»Ich schwöre dir, ich wollte nichts Böses. Ich würde dir niemals etwas tun, und ich könnte ein bisschen Gesellschaft gebrauchen. Es ist verflixt einsam hier draußen, wenn man niemanden hat, der über Gott reden will.«
»Ich kann dich ja verstehen, Mann, aber ich muss mal anrufen.«
»Fünf Meilen von hier gibt es einen Flying J. Möchtest du mein Handy benutzen?«
»Äh … nein«, sagte Jessica, ohne sich die Mühe zu machen, ihm eine Erklärung zu liefern.
»Selbst Ausreißer haben heutzutage ein Handy«, flüsterte ich ihr zu. »Das nächste Mal erzählst du, dass du dich dort mit einer Freundin treffen willst.«
Ich konnte beinahe sehen, wie sie unmerklich nickte.
Richard Rogers ließ Jessica beim Flying J aussteigen und fuhr weiter. Nachdem sie sich umgeschaut und überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete, setzte sie sich in Bewegung und marschierte auf der anderen Straßenseite zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Kein Killer der Welt würde auf die Idee kommen, sie beim Truck Stop aufzusammeln, solange noch Licht vor dem Laden brannte und die Möglichkeit bestand, dass Zeugen ihn beobachteten. Aber er würde ihr vielleicht von hier aus folgen.
Wir unterhielten uns ein wenig, während Jessica weiterging. »Hey, Rookie – ist dir aufgefallen, dass der Junge ein kurzärmeliges weißes Hemd anhatte und eine dünne schwarze Krawatte?«, fragte ich.
»Sie fahren immer mit dem Fahrrad, also leck mich, Coach«, entgegnete sie. Ich spürte, wie sie grinste, genau wie ich. Sie war genauso heiß auf ihre Arbeit, wie ich es in ihrem Alter gewesen war. Ich wusste in diesem Augenblick, dass sie in ihrem Job mal ein Ass werden würde.
Wir horchten erneut auf, als sie von einem freundlichen älteren Mann (nach Jessicas Worten, also einem Mann irgendwo Ende vierzig) aufgesammelt wurde. Er
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