Der stille Sammler
ging zurück zum Anfang, um nachzusehen, welche weiteren Optionen es gab. Unveränderliche Kennzeichen. Konnte man sie auf dem mumifizierten Fleisch immer noch finden?
Ich zog mir den dritten Ordner heran und schlug ihn auf, um nachzusehen, ob der Autopsiebericht da war. Zuoberst fand ich ein cremefarbenes Heft von vielleicht fünfzehn mal zwanzig Zentimetern, gebunden an der kurzen Seite, der Einband verschmutzt mit Fett und Dreck, die Ecken eselsohrig von häufiger Benutzung.
Originalmaterial?
Ich schlug das Heft auf.
Es war ein Fahrtenbuch. Auf der ersten Seite stand handschriftlich Lynchs Name, gefolgt von Seiten mit Fahrtstrecken, Zeitangaben, Ruhepausen und so weiter. Aufbewahrt für den Fall, dass er in eine Polizeikontrolle geriet, wie das Gesetz sie vorschrieb.
Neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand die Kiste, die Coleman und ich aus der Behausung der Lynchs mitgebracht hatten. Ich klappte den Deckel auf und fand weitere Fahrtenbücher. Sie mussten ganz unten in der Kiste gelegen haben. Laura Coleman hatte sie gefunden, durchgesehen und schließlich das eine Fahrtenbuch herausgenommen und in den Ordner gelegt. Ich musste an Colemans Nachricht denken, über unsere Verabredung im Gefängnis und dass ich recht gehabt hatte. Offenbar hatte sie irgendetwas gefunden, einen entscheidenden Hinweis.
Das Fahrtenbuch im Ordner war aus dem Jahr 2004. Schon die Jahreszahl ließ meinen Puls in die Höhe schnellen. Die akribischen Aufzeichnungen waren lückenlos. Sie zeigten, wann der Truck gewogen worden war, wann Lynch die Ladung gewechselt hatte, selbst die Pausen, die er mit Essen oder Schlafen verbrachte. Am wichtigsten jedoch: Sie zeigten die Routen, die Lynch gefahren war, und die dazugehörigen Daten, vom Anfang des Jahres bis zum August. Alles war so detailgenau festgehalten, dass es schon eines Genies bedurft hätte, ein so kunstvolles Alibi zu erschaffen. Ich war überzeugt, nur noch einen kleinen Schritt von der Wahrheit entfernt zu sein.
Endlich kam ich zu dem Datum, nach dem ich gesucht hatte. Am 1. August 2004, in jener Nacht, in der Jessica Robertson irgendwo zwischen Tucumcari und Albuquerque ermordet worden war, hatte Floyd Lynch sich ganz woanders aufgehalten. Weit weg von der Route 66 im Imbiss einer Flying-J-Tankstelle in Texas, an der Route 10 in der Nähe von El Paso, fast achthundert Kilometer südwestlich vom Schauplatz des Verbrechens.
Es war der definitive Beweis, dass Floyd Lynch Jessica Robertson nicht ermordet hatte.
Lynch war nicht der Route-66-Killer.
44.
All die Jahre hatten wir stets ungefähr gewusst, in welcher Gegend der Killer seine Opfer kidnappte – im Umkreis der ehemaligen Route 66 oder einem der kreuzenden Highways. Und wir wussten ungefähr, in welchem Zeitraum der Killer zuschlug – irgendwann zwischen Anfang Juni und Ende August. Demzufolge war es theoretisch denkbar, die ganze Gegend in der fraglichen Zeit unter Beobachtung zu halten, aber der Aufwand wäre absurd gewesen. Nicht einmal der Son of Sam war auf diese Weise gefasst worden, und er hatte in einer viel kleineren Gegend sein Unwesen getrieben. Stattdessen bemühten wir uns, verschiedene Streckenabschnitte zu lokalisieren, die der Killer mit hoher Wahrscheinlichkeit benutzen würde. Wir gaben an sämtlichen lokalen Rastplätzen Warnungen aus, nicht per Anhalter zu fahren. Der Killer schien die Herausforderung zu genießen.
Die historische Route 66 war längst zum viel befahrenen Interstate Highway 40 ausgebaut worden. Wir nahmen an, dass wir es mit einem Trucker zu tun hatten, der die Strecke regelmäßig benutzte, entweder hinter dem Steuer eines schweren Sattelschleppers oder als Fahrer eines kleineren Lasters, der zwischen zwei nahe gelegenen Städten verkehrte. Wir kontrollierten jedes Unternehmen, das Lastwagen über diese Route schickte, und überprüften jeden einzelnen Fahrer dieser Firmen. Wir fanden niemanden, der als Täter infrage gekommen wäre.
Im Lauf der Zeit wurde der Killer zu einer Besessenheit bei mir. Das ganze Jahr dachte ich an die nächsten Sommermonate und daran, wie ich den Kerl diesmal schnappen würde, bevor er erneut zuschlagen konnte. So ging es vier Jahre lang, bis Jessica zu uns kam und wir sie ausbildeten, das zu tun, was ich selbst nicht mehr tun konnte.
Damals war Black Ops Baxter schon lange tot, und ich trainierte Jessica selbst. Von Januar bis Juni arbeitete Stig in jeder freien Minute mit ihr daran, wie man einen Killer demaskierte, und ich zeigte ihr, wie man
Weitere Kostenlose Bücher