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Der stille Sammler

Der stille Sammler

Titel: Der stille Sammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Becky Masterman
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und der Frisur sahen alle Opfer sich in gewisser Hinsicht ähnlich. Es waren junge weiße Frauen, alle mit nicht ganz geschlossenen Augen, alle mit einem Gesichtsausdruck, in dem manche Frieden zu erkennen meinen, während ich nur die endgültige Resignation des Opfers sehe, alle mit blutverkrusteten Wunden an der Stelle, wo ihr rechtes Ohr gewesen war, und natürlich alle nackt. Vor ihrer Ermordung waren sie nicht Opfer gewesen, keine Beweisstücke, über die man sprach, sondern Menschen, richtige, lebendige Menschen, und ich erinnerte mich an jeden Namen, ohne auf die Bildunterschriften sehen zu müssen.
    Patricia Stanbaugh. Sie hatte einen Zwillingsbruder gehabt, Patrick, der ihr platinblondes Haar als echt erkannte. Hastig mit dem Gesicht voran aus einem Wagen geworfen, anstatt in Pose gelegt. Das erste bekannte Opfer des Killers.
    Das zweite Opfer, Anna Maria Carrasco. Eine Kindergärtnerin auf abenteuerlicher Fahrt, von der sie ihren Kindern erzählen konnte. Sie hatte stärker geblutet als alle anderen.
    Das dritte Opfer, Kitty Vaught. Verlobt, auf ihrer letzten Reise als ledige Frau. Sie hatte nach ihrer Rückkehr heiraten wollen.
    Das vierte Opfer, Arline Blum. Ein Hauch von einem Mädchen. Sie war Jüdin und hatte ein Tattoo von einem ägyptischen Ankh, dem Symbol ewigen Lebens, auf dem Knöchel.
    Das fünfte Opfer, Mary Sneedy. Sie stammte aus Arlington, Virginia, und niemals zuvor habe ich so viele Menschen bei einer Beerdigung gesehen.
    Ich ging die Namen durch wie eine Litanei, wie eine jener Novenen in St. Anthony’s, zu denen mich meine Mutter an den Montagnachmittagen nach der Schule regelmäßig gezerrt hatte. Der Geruch nach Weihrauch, das Läuten der Handglocken, die Verehrung der Hostie, das traurige Singen des Tantum Ergo , die gemurmelten Antworten in den Gebeten um Frieden für die Seelen der geliebten Verstorbenen. Ich konnte die Antworten der geliebten Verstorbenen hören.
    Erbarme dich unser.
    Erbarme dich unser.
    Erbarme dich unser.
    Nichts kam von alleine zu mir, verdammt. Nichts. Ich drückte die Fotos an mich, als könnte ich irgendetwas Nützliches aus ihnen herausquetschen. Los, redet mit mir, Mädchen!
    Zu guter Letzt kam ich zu Jessicas Bild. Verschwunden am 1. August 2004. Das Foto unterschied sich von den anderen, da es Jahre nach ihrem Tod aufgenommen worden war, nicht Tage, und der Leichnam nur noch eine Mumie gewesen war. Von der Frau, die ich gekannt hatte, war auf dem Foto nichts mehr zu erkennen.
    Endlich kam das Foto der anderen Mumie, die wir in dem Autowrack gefunden hatten. Das einzige Opfer des Killers, das bisher nicht identifiziert werden konnte, das ohne Namen geblieben war und offenbar von niemandem vermisst wurde.
    Du warst die Erste, das wissen wir jetzt, nicht Patricia Stanbaugh. Du hast noch deine beiden Ohren, und deine Sehnen wurden auch nicht durchtrennt. Du wurdest ermordet, bevor der Killer seine endgültige Vorgehensweise und seine Signatur entwickelt hatte. Das war anders.
    War das der Unterschied, den der Killer gemeint hatte? Zu offensichtlich.
    Er hat dich ermordet, bevor er sicher war, dass er ungeschoren davonkommen konnte. Vielleicht war es nicht geplant. Vielleicht war es spontan. Vielleicht kannte er dich. Wenn ich wüsste, wer du warst, würde ich ihn vielleicht ebenfalls kennen.
    Ich erinnerte mich, wie freundlich George Manriquez an jenem Morgen gewesen war, als Zach kam, um die Leiche seiner Tochter zu sehen. Wie er mit einem Seufzer gesagt hatte, er sei vor zehn Jahren von Miami hierhergekommen auf der Suche nach ein wenig mehr Frieden und dass er nichts weiter erreicht habe, als von haitianischen Wasserleichen zu mexikanischen Mumien zu wechseln. Es hatte ihn betrübt, das war ihm deutlich anzusehen – einer der wenigen Leute im Geschäft, die noch nicht völlig abgestumpft waren.
    Ich blätterte zu den medizinischen Berichten, und tatsächlich, er hatte die Unbekannte einer vollständigen Autopsie unterzogen.
    Keine feststellbaren organischen Krankheiten. Die anderen Opfer waren ebenfalls gesund gewesen.
    Todesursache: Strangulation. Auch dies war keine Abweichung.
    Manriquez hatte Röntgenaufnahmen von ihren Zähnen angefertigt für den Fall, dass sich später dazu passende Unterlagen fanden. Der Zustand ihrer Zähne ließ auf ordentliche Hygiene und gesunde Ernährung schließen.
    Der Leichnam war in einem Wagen abgelegt worden und dort in der trockenen Wüstenhitze auf natürliche Weise mumifiziert. Das war anders.
    Keine erkennbaren

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