Der stille Sammler
herunter, sodass Zach die trockenen Haare und ein Stückchen braune Haut von der Stirn sehen konnte. Da er den Anblick zu ertragen schien, zog Manriquez das Tuch bis unterhalb des Kinns.
Ich hatte den Kopf zur Seite geneigt, um Zach aus den Augenwinkeln zu beobachten. Nun spürte ich sein heftiges Zittern mehr, als dass ich es sah, und hörte sein leises Stöhnen. Ansonsten wirkte er sehr gefasst, vertieft in den eigenen Schmerz, der vermischt war mit Gedanken und Erinnerungen. Schließlich hob er eine Hand und berührte mit dem Zeigfinger sanft das braune Läppchen ihres linken Ohres, erhalten über die Jahre hinweg durch den Mumifizierungsprozess. Er streichelte es mit einer solchen Behutsamkeit, als wäre es unglaublich zerbrechlich und atemberaubend schön. Zum Glück konnte er die rechte Seite des Kopfes nicht sehen, wo Lynch das Ohr abgetrennt hatte. Schließlich nahm Zach langsam die Hand weg, und der Gerichtsmediziner zog das Laken wieder über Jessicas Kopf.
»Ich sehe sie nie mehr wieder«, flüsterte Zach.
Manriquez blickte den Assistenten an, der offensichtlich vorher schon Instruktionen erhalten hatte. Dann wartete er, bis Zach aus dem Raum und in den Wartebereich geführt worden war. Er hatte sich tapfer gehalten, und ich war stolz auf ihn.
Trotz der bedrückenden Nähe der Leiche atmeten wir alle erleichtert auf. »Ich bin vor zehn Jahren von Miami hierhergekommen, weil ich einen Tapetenwechsel brauchte«, bemerkte Manriquez. »Zu viele tote Einwanderer, die an die Strände gespült wurden. Und was habe ich davon? Statt haitianischer Wasserleichen untersuche ich jetzt mexikanische Mumien. Zusammen mit der Sommerhitze habe ich einen ganzen Laster voller tiefgekühlter, nicht identifizierter Leichen von Menschen, die es nicht durch die Wüste geschafft haben.«
Nach diesen Worten machte er sich an die Arbeit. Mit deutlich weniger Feierlichkeit als zuvor zog er das Laken ganz von der Mumie. Der Leichnam lag noch in der gleichen fetalen Haltung, in der wir ihn im Autowrack gefunden hatten. Nur der Kopf saß nicht mehr fest am Rumpf. »Diese Art der Mumifizierung findet man relativ häufig«, sagte Manriquez. »Ein ganz natürlicher Vorgang in der Wüste, weil die Feuchtigkeit so gering ist. Es ist genau wie bei der zweiten Leiche im Wagen.« Damit meinte er die Prostituierte, die Lynch abwertend als »Highwaynutte« bezeichnet hatte und die sein erstes Opfer gewesen war.
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mir die zweite Tote genauer anzuschauen«, gestand ich. »War es der gleiche Modus Operandi wie bei den anderen Leichen?«
»Ich habe mich zuerst auf diese Leiche hier konzentriert«, antwortete Manriquez. »Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nur sagen, dass der anderen Toten kein Ohr abgetrennt wurde. Mehr weiß ich aber erst, wenn ich die Autopsie vorgenommen habe.«
»Was ist mit der Leiche aus Lynchs Lastwagen?«, fragte ich. »Gibt es Ähnlichkeiten, was die Todesursache betrifft?«
»Wie ich bereits sagte, der Leichnam von Jessica Robertson ist allem Anschein nach auf natürliche Weise mumifiziert. Beim Leichnam in Lynchs Lastwagen hingegen wurde nachgeholfen. Sie finden alles in meinem Bericht.«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge, Doc«, hakte ich nach. »Ich muss zu Agent Coleman und Sheriff Coyote aufschließen.«
»Also gut.« Manriquez nickte. »Er hat Natron benutzt. Es ist frei erhältlich und besteht aus einer Mischung von vier verschiedenen Natriumverbindungen: Karbonat, Bikarbonat, Chlorid und Sulfat. Natron hat eine entwässernde Wirkung; deshalb legt man den Leichnam hinein, sodass er dehydriert wird und unbewohnbar für die Bakterien, die normalerweise das Gewebe zersetzen. Außerdem hat der Täter die Organe entfernt, die den Verwesungsprozess beschleunigt hätten. Lediglich das getrocknete Gewebe und die Knochen blieben übrig.«
Manriquez war wie die meisten anderen Gerichtsmediziner: Es gab nichts auf der Welt, worüber er so gerne redete wie über seine Arbeit. Mir fiel ein, dass Zach ganz alleine draußen darauf wartete, bis das alles endlich vorbei war, doch meine Neugier war geweckt.
»Und Natron ist frei erhältlich, sagten Sie?«, erkundigte ich mich.
»Ja«, antwortete Manriquez. »Es wird als Trockenmittel in kleinen Beutelchen verwendet. Lynch ist kein Dummkopf. Er weiß, wie man sich im Internet Informationen beschafft. Auf diese Weise hat er herausgefunden, was er tun muss. Das hat er Agent Coleman bei ihrer Vernehmung übrigens bestätigt. Ich vermute
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