Der stille Sammler
Hotel an. Er sitze vor dem Fernseher, sagte er. Nein, er habe noch nicht entschieden, wann er nach Hause fahren würde.
Ich schaute aus dem Gartenfenster. Mein Blick fiel auf Janes lebensgroße Statue des heiligen Franziskus auf der Bank neben dem Vogelbad und auf die Silhouette des Mount Lemmon dahinter – ein Ausblick, der mir in der Vergangenheit stets zu innerer Ruhe und Frieden verholfen hatte.
Von unserem Fenster aus war die nördliche Straße zum Pass hinauf selbst bei Tageslicht nicht zu erkennen, aber der Anblick brachte mich dazu, mir Mumien in Autowracks vorzustellen, und ich wusste, dass es von nun an immer so sein würde.
Ich schüttelte den Gedanken ab und lockte Carlo ein wenig früher als gewöhnlich ins Bett, wodurch es mir gelang, weitere Fragen seinerseits abzuwehren. Ich musste nicht großartig schauspielern, denn trotz meiner Traurigkeit – oder vielleicht gerade deswegen – fühlte ich mich hellwach. Als Carlo mich anschaute, sah ich die unausgesprochenen Fragen in seinen Augen, aber nach wenigen Minuten hatte ich ihn auf Touren gebracht.
Hinterher, während ich Carlos regelmäßigem Atem lauschte, fragte ich mich, ob ich aufstehen und mir das Video von Laura Coleman anschauen sollte. Dann aber hörte ich aus den Tiefen meiner Erinnerungen die Stimme von Schwester Marie aus dem Religionsunterricht in der vierten Klasse. »Jeder Tag hat seine eigenen Lasten.« Wenn man zehn Jahre alt ist, ergibt so ein Satz nicht allzu viel Sinn, aber jetzt verstand ich ihn nur zu gut: Heute hatte es genug schlimme Dinge gegeben. Das Video konnte bis zum nächsten Morgen warten, wenn ich ausgeruht war und stark genug, mir anzuschauen, was immer es enthielt.
Ich stand ein letztes Mal auf, nahm eine Schlaftablette, damit mein Gehirn zur Ruhe kam, und schlüpfte wieder unter die Decke.
12.
Zur Frühstückszeit am nächsten Morgen versuchte ich Zach anzurufen, landete jedoch auf seiner Mailbox und hinterließ ihm eine Nachricht. Als er nicht zurückrief, versuchte ich es im Hotel – vielleicht war der Akku seines Handys leer, oder mit dem Gerät stimmte etwas nicht. Von der Rezeption erfuhr ich, dass er noch nicht ausgecheckt hatte. Diese Auskunft machte mich nervös – zusammen mit dem Gedanken daran, dass ich Zach möglicherweise mitteilen musste, dass Floyd Lynch gar nicht der Mörder seiner Tochter war, und dass Carlo mich fortgesetzt mit merkwürdigen Blicken bedachte.
Ich konnte mich nicht dazu durchringen, mir das Video anzuschauen, das Colemans Gutachten beigelegt war. Wie soll ich es erklären? Als hätte man einen Knoten, der wahrscheinlich harmlos ist, aber man hat trotzdem Angst, ihn dem Arzt zu zeigen.
Carlo ging in den Garten, um den Zaun abzuschmirgeln und zu streichen, während ich im Fitnessraum mit den Freihanteln trainierte, doch es reichte mir nicht. Deshalb beschloss ich, trotz der tropischen Hitze hinunter ins ausgetrocknete Flussbett zu steigen und ein paar Steine zu suchen, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Das war der Tag, an dem ich den Fehler beging, mich von dem Vergewaltiger in seinen Van zerren zu lassen.
Ich zog den gleichen Gehstock aus dem unechten Louis-quatorze-Schirmständer im Eingangsflur, den ich auch am Mount Lemmon dabeigehabt hatte, als Jessicas mumifizierte Leiche aus dem Autowrack geborgen wurde. Es ist nicht so, dass ich mich gebrechlich fühle; ich benötige den Stock, um das Gleichgewicht besser halten zu können. Außerdem diente er als Schutz gegen Klapperschlangen, denen man in unserer Gegend gelegentlich über den Weg läuft. Die Klinge hatte Carlo angebracht, damit ich mich gegen streunende Hunde und Kojoten verteidigen konnte.
Ich steckte die Gartenhandschuhe und eine Flasche Wasser in meinen staubigen Rucksack und schnallte ihn um. Das Handy verstaute ich in einer Tasche meiner weiten Cargohose. Derart ausgerüstet machte ich mich auf den Weg, die Golder Ranch Road hinunter zum Canada del Oro Wash unter der Brücke.
Ich habe eine Art sechsten Sinn, der mich in gefährlichen Augenblicken schon mehr als einmal gewarnt hat. Es ist ein Nerv an meinem Hals, der bei Gefahr zuckt. Ich weiß nicht, warum er nicht gezuckt hat, als ich den weißen Lieferwagen zum ersten Mal erblickte – ein altes, schmutziges Fahrzeug, das oben auf der Brücke stand. Der Fahrer lehnte aus dem offenen Fenster und blickte hinunter in das trockene Flussbett. Vielleicht wird der Nerv allmählich alt, oder er stumpft ab.
Abgesehen von der fehlenden Intuition hätte mir
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