Der stille Sammler
Blatt auf – vermutlich das vergleichende Profil, das Laura Coleman zusammengestellt hatte – und blickte mit ausdrucksloser Miene darauf. »Ich frage mich, was der echte Killer über unseren Freund Lynch denkt. Entweder verkriecht er sich noch tiefer in sein Versteck, oder er fühlt sich zu neuen Taten inspiriert, um sich seinen Ruhm zurückzuholen. Du musst dir Lynch vorknöpfen, Stinger.«
»Das habe ich vor, Sig. Danke für deine Hilfe«, sagte ich, während ich mir nichts sehnlicher wünschte, als ihm von dem Schlamassel im ausgetrockneten Flussbett zu erzählen, bei dem ich wirklich Hilfe brauchte. »Sigmund?«
»Ja?«
»Könnte es sein, dass jemand, den wir eingebuchtet haben, auf Bewährung draußen ist, ohne dass man uns informiert hat?«
Er dachte nach. »Nein«, sagte er dann. »Sie achten eigentlich sehr genau darauf, uns zu informieren. Warum?«
»Nichts. Nur so ein Gedanke.«
Ich hatte erwartet, dass Sigmund als Erster das Gespräch beenden würde, aber das tat er nicht.
»Und jetzt zu dem, was ich noch nicht weiß«, sagte er. »Du bist anders als bei unserem letzten Wiedersehen. Was ist los?«
»Anders? Inwiefern?«
»Ich kann dir ansehen, wenn dich etwas bedrückt. Deine Stimme klingt noch belegter als normal. Du kannst mir nichts vormachen. Was ist los? Hat es dich so sehr mitgenommen, dass Lynch gar nicht der Killer ist? Hast du Schuldgefühle?«
Nein, Sig. Ich habe Probleme mit einem toten Dreckskerl, von dem ich annehme, dass er irgendwie mit der ganzen Scheiße zu tun hat, über die wir uns gerade unterhalten haben.
Das Bedürfnis, mit Sig darüber zu reden, war so überwältigend, dass ich spürte, wie sich die Worte in meinem Mund formten, sodass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um mich am Reden zu hindern. Sig hatte etwas an sich, das in mir den Wunsch weckte, meine Sünden zu beichten und mir die Last von der Seele zu reden.
Doch ich zuckte nur beiläufig die Schultern und klimperte unschuldig mit den Wimpern. »Nein, ich habe keine Schuldgefühle. Ich komme mir nur ziemlich verarscht vor. Ich hasse den Gedanken, Zach sagen zu müssen, dass wir den Falschen erwischt haben und dass der Kerl, der seine Tochter ermordet hat, immer noch frei herumläuft. Aber sonst ist alles in Ordnung.«
18.
Tucson liegt in der Sonora-Wüste, umschlossen von mehreren Gebirgszügen. Die Wüste beheimatet den größten, möglicherweise sogar einzigen Bestand an Saguaro-Kakteen auf der ganzen Welt. Man spricht es »Swarro« aus, und es sind genau die Art von Kakteen, die man sich als Erste vorstellt, wenn man an einen Kaktus denkt. Baumgroße Gebilde, die in der Landschaft verstreut stehen wie riesige Gumbys.
Ich mag die Rauheit einer Gegend, die einen umbringen kann, sei es durch Buschfeuer, Dehydrierung oder Ertrinken in einer Sturzflut. Im Vergleich zur Wüste fühle ich mich zart, sanft und verletzlich.
Die eigentliche Wüste, Sand und Felsen, ist größtenteils beige. Nur die härtesten Pflanzen überleben, und manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken: Wenn ein dämlicher Kaktus das kann, dann kann ich das auch.
Anders als in Tucson ist die Vegetation in der Gegend von Benson, sechzig Autominuten östlich und ein gutes Stück höher gelegen, geradezu üppig. Es gibt Obsthaine voller Apfel-, Pfirsich- und Pekannussbäume. In Benson gibt es mindestens genauso viele Mobilheime wie Häuser, und sogar die Häuser sind oft aus Fertigbauteilen errichtet, mit Aluminiumrahmen und ohne Fundament.
Wie mit Laura Coleman vereinbart, trafen wir uns auf dem Parkplatz neben dem zwölfstöckigen Hochhaus in der Innenstadt von Tucson, in dessen sechster Etage das FBI -Büro untergebracht ist. Coleman saß in ihrem Wagen und blickte vorwurfsvoll auf ihre Uhr, als ich in der freien Parktasche neben ihr hielt.
Ich konnte mich nicht zu einer Entschuldigung für meine vierzehnminütige Verspätung durchringen. Abgesehen davon hatte Coleman die Klimaanlage laufen lassen, sodass in ihrem Prius beinahe erträgliche Temperaturen herrschten. Beinahe. Ich schaltete ihr Radio aus, in dem einer von diesen Girliesongs lief, die alle gleich klingen.
»Stört es Sie?«, fragte Coleman.
»Jetzt nicht mehr. Bitte lassen Sie es aus. Ich hasse Musik.«
Als wir ein bisschen schneller als erlaubt über die I-10 East fuhren, löcherte Coleman mich mit Fragen bezüglich meiner Reaktion auf das Video. Als ich ihr sagte, dass ich mir alles angeschaut und das Video dann an Sigmund weitergeleitet hatte, der meine Meinung
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