Der stille Sammler
die Todesstrafe zu kriegen? Das wird nicht geschehen, so viel kann ich Ihnen versichern.
Lynch: Ich muss mal pinkeln. Dringend. Jetzt sofort.
Zum ersten Mal seit mehr als vierundzwanzig Stunden dachte ich an etwas anderes als an den Mistkerl, den ich in dem ausgetrockneten Flussbett getötet hatte. Ich spulte das Video zurück und ließ es dann noch einmal laufen. Und ein drittes Mal. Zählte die Pausen … einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Jeweils mehr als drei Sekunden. Es gelang mir, das Bild genau in dem Augenblick zu stoppen, als Coleman Lynch fragte, was er mit den Ohren gemacht habe. Deswegen hatte Coleman mir das Video schließlich gegeben. Ich sollte es mir anschauen und mir selbst ein Urteil bilden. Wie hatte sie es ausgedrückt? »Ich kriege seinen Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf, als ich ihn nach den Ohren gefragt habe. Da sah ich plötzlich einen anderen Mann vor mir. Keinen Psychopathen, sondern ein Bild des Jammers.«
Was hatte sie damit gemeint?
Ich schaute wieder auf den Monitor und sah, wie Lynchs Pupillen sich weiteten und sein Blick nach links unten schweifte. Sein Unterkiefer sank ein kleines Stück hinab. Doch selbst ohne diese verräterischen Anzeichen war ich sicher, dass er log.
Mit einem Mal wurde er so blass, dass der Schorf auf seiner Wange plötzlich dunkler aussah. In seinem Gesicht spiegelte sich Panik. Und nachdem Coleman ihn darauf hingewiesen hatte, wie wichtig die Sache mit den Ohren eigentlich für ihn sein müsse, verriet sein Gesicht nackte Angst.
»Kein Psychopath«, hatte Coleman gesagt, »sondern ein Bild des Jammers.«
Sie hatte recht.
Aber warum war das so? Was hatte Lynchs erschreckende Veränderung bewirkt?
Ich nahm Video und Profilvergleich und mailte beides an Sigmund mit der Bitte, mich so schnell wie möglich anzurufen, sobald er sich eine Meinung gebildet hatte.
17.
Es ist ein geschmackloser Ausdruck, aber mir fällt nichts Besseres ein: Dr. David Weiss, genannt »Sig«, Jurist, Arzt und Psychologe, und ich waren einmal Fickfreunde gewesen. Okay, zweimal. Eigentlich sogar dreimal. Das erste Mal, nachdem Paul mir den Laufpass gegeben hatte. Das zweite Mal gegen Ende meiner Karriere, nachdem ich den Verdächtigen erschossen hatte und ich mich nicht mehr erinnern konnte, wer ich eigentlich war. Das dritte Mal nach meiner Abschiedsparty, auf der wir beide allerdings so betrunken waren, dass wir es nicht einmal schafften, unsere Klamotten auszuziehen.
Sigmund hat mehr auf dem Kasten als ich, und das hat mir schon immer gefallen. Ich bin gerne mit Leuten zusammen, bei denen ich geistige Sprints hinlegen muss, um ihnen folgen zu können. Sig lebt an der Ostküste, drei Stunden entfernt, aber das war keine Garantie dafür, dass er sich schnell mit mir in Verbindung setzen würde. Er hatte ein Motto, ein Sprichwort von Euripides: »Die Übung ist in allem beste Lehrerin den Sterblichen.« Er würde sich das Video anschauen, sich seine Gedanken machen, es sich dann noch einmal anschauen und sich weitere Gedanken machen, bevor er zum Telefon griff und sich bei mir meldete.
Also stellte ich mich auf Warten ein und schlug ein wenig die Zeit tot. Ich nahm eine Packung Hackfleisch aus dem Kühlschrank und vermischte es mit Ei, zerstoßenen Chips und Chilisauce für den speziellen Kick. Es stand auf meiner rotierenden Liste von sieben Gerichten, die ich zubereiten konnte (einschließlich Shakes und gebackenem Hühnchen, gegrilltem Fisch und gebratenen Schweinekoteletts mit Barbecuesauce). Ich zermatschte die Mixtur nach Kräften, wobei ich an das Gesicht von Floyd Lynch dachte, was mir die Sache einfacher machte. Als ich fertig war, formte ich den Fleischteig zu einem kleinen Ball und legte ihn für später in den Kühlschrank.
Dann sah ich mir noch einmal die Videoaufzeichnung des Verhörs an.
Und wartete.
Als Sigmund immer noch nicht zurückrief, fuhr ich meinen Computer hoch und skypte ihn an.
»Immer auf dem neuesten Stand der Technik«, sagte er und lehnte sich zurück, um mich eingehend zu mustern. Ich ließ ihn gewähren, auch weil ich nicht wusste, wie ich es verhindern sollte, und hoffte, dass er mir nicht ansah, dass ich kürzlich einen Menschen getötet hatte. »Anscheinend bist du doch nicht die Maschinenhasserin, für die ich dich immer gehalten habe, Stinger.«
»Nur weil ich als kleines Mädchen nicht mit einem Toaster geschlafen habe wie du?«
»Oh, Stinger stichelt. Das macht sie immer, wenn sie unter Stress steht.«
»Komm schon,
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