Der stille Sammler
Wagen«, sagte sie unvermittelt.
Ich staunte. Die Fallakte war ein heiliges Dokument, und es war niemandem erlaubt, sie aus dem Büro mitzunehmen. Ich senkte die Stimme und musterte sie eindringlich. »Was denn, Sie haben eine Kopie der Fallakte aus dem Büro mitgenommen?«
Coleman errötete. »Nicht die ganze Akte«, sagte sie. »Nur den Teil über Lynch. Sein Geständnis und was er über seinen Truck gesagt hat, diese Dinge. Aber es steht ein wenig mehr drin als das, was ich Ihnen bis jetzt erzählt habe.«
Laura Coleman wurde mir immer mehr zu einem Rätsel. Auf der einen Seite starr und unbeweglich, auf der anderen …
»Sie halten nicht viel von Vorschriften, Snow, habe ich recht?«
»Ich dachte, wir könnten zu mir nach Hause fahren und alles durchgehen und Lynch dann noch einmal befragen, am besten morgen früh. Vielleicht brauchen wir gar keine neuen Beweise mehr. Vielleicht hat er selbst inzwischen nachgedacht. Vielleicht müssen wir weniger Druck ausüben, als wir glauben, damit er mit der Wahrheit herausrückt. Zum Beispiel die Sache mit der Mumie in seinem Truck …«
»Was soll damit sein?«
»Was, wenn der richtige Killer sie ihm gegeben hat?«
»Langsam, Coleman, langsam. Wir dürfen uns nicht zu voreiligen Schlüssen hinreißen lassen. Geben Sie mir, was Sie haben, und ich nehme das Material mit nach Hause. Ich kann besser denken, wenn ich allein und ungestört bin. Ich finde schon heraus, ob es etwas gibt, mit dem wir Lynch morgen konfrontieren können und das ihn vielleicht dazu bringt, seine Geschichte zu ändern.«
22.
Ich hatte den Rest des Nachmittags damit verbracht, mit Carlo durch Supermärkte und Läden zu bummeln, und anschließend den Hackbraten zubereitet, den ich am Morgen fertig gemacht hatte. Den Rest des Abends verwandte ich meine verbliebene Energie darauf, einen gelassenen Eindruck zu erwecken, wobei mir Schwarzenegger und sein Kampf gegen den Predator halfen. Ich weiß nicht warum, aber der Film entspannte mich, obwohl ich ihn schon zwei-, dreimal gesehen hatte. Selbst Carlo, der ihn noch nicht kannte, räumte ein, dass er ihm gefiel. So kam es, dass ich keine Gelegenheit fand, mir das Material von Laura Coleman anzusehen, obwohl ich so sehr darauf brannte.
Am nächsten Morgen schreckte ich um fünf Uhr aus dem Schlaf hoch, auf einen Schlag hellwach bei dem Gedanken an den toten Drecksack im Flussbett. Leise schlüpfte ich aus dem Bett, stellte den Kaffeekocher an und ging in mein Büro. Ich setzte mich an den Schreibtisch, griff nach Notizblock und Stift, um meine Anmerkungen niederzuschreiben, und nahm mir Colemans dünnen Hefter vor. Der Inhalt war so fesselnd, dass ich schon bald nicht mehr an die Dinge dachte, die sich meiner Kontrolle entzogen.
Der Hefter enthielt nicht die ganze Geschichte. Sämtliche Fotos fehlten – Coleman hatte sich nicht die Zeit genommen, sie zu kopieren. Außerdem fehlten die Details der ursprünglichen Serie von Route-66-Morden. Der Bericht begann mit Lynchs Verhaftung am 26. Juli um 23.19 Uhr auf Seite eins und endete mit seinem unterschriebenen Geständnis auf Seite 268. Dazwischen fanden sich unter anderem Berichte der Spurensicherung und Listen mit Beweisen, die man in seinem Truck und an ihm selbst gefunden hatte: Plastiksäcke in der Kabine, wo die Mumie während der Fahrt gelegen hatte; Spuren von Natron, mit denen die Leiche mumifiziert worden war; Körperhaare (nur seine und die der Mumie) trotz der Plastiksäcke; ein Roman von Jeffrey Deaver, der so abgewetzt war, dass er aussah, als hätte Lynch ihn Dutzende Male gelesen.
Ein ausgedrucktes E-Book mit dem Titel Wie man Frauen tötet und ungeschoren davonkommt , von einem gewissen Anonymus. Das Copyright war von 2009. Zusammen mit den Ausdrucken, die wir am Vortag bei den Lynchs gefunden hatten, war das eine weitere Unstimmigkeit für einen Serienkiller, der sich bereits erfolgreich betätigte. Ich schrieb auf meinen Notizblock:
– Herausfinden, ob das E-Book bei der Kongressbibliothek registriert ist und, falls ja, unter welchem Namen
Ein kleiner tragbarer DVD -Player, der – wenig überraschend – einen Splatterfilm mit dem Titel Zombie Strippers enthielt, dem Film, von dem Lynch bei seinem Verhör gesprochen hatte. Eine billige Armbanduhr. Ein zweites Paar Jeans und mehrere T-Shirts. Socken, Unterwäsche, ein kleiner Toilettenbeutel von der Sorte, die er auf einem Rastplatz mit in den Waschraum nehmen konnte. Ein Straßenatlas. Ein GPS -Empfänger. Ein Handy.
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