Der stille Sammler
zurückzuziehen, mich mit unbeteiligtem Interesse zu beobachten und wieder in mich zu fahren, wenn es sich gefangen hatte.
Mein Zustand wurde mir erst wirklich klar, als ich längst aus dem Haus war und auf der Oracle nach Süden fuhr, auf der linken Spur und zehn, fünfzehn Kilometer langsamer als die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Ein Pritschenwagen, rot und mit sämtlichen Extras aufgemotzt, hing mir auf der Stoßstange – vielleicht schon eine ganze Weile, ohne dass ich es bemerkt hatte. Als es ihm zu bunt wurde, verlieh er seinem Zorn mit der Hupe Ausdruck. Ich schaute zu meiner Tasche und überlegte, ob ich ihm eine Kugel in den Reifen jagen sollte, beschloss dann aber, mich zurückzuhalten, schließlich waren überall Zeugen.
An der Kreuzung Tangerine stand die Ampel auf Rot. Als ich hielt, war der Drängler immer noch hinter mir. Ich legte die Parkstellung ein, stieg aus und ging zum Seitenfenster auf der Fahrerseite des Prischenwagens. Es war geschlossen – bei dieser Hitze kein Wunder –, und die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Wütend schlug ich mit der Handfläche gegen die Scheibe.
Das Fenster glitt langsam nach unten. Zum Vorschein kam ein konservativ gekleideter Typ, der mich völlig verschreckt anstarrte. Zuerst dachte ich, es läge daran, dass noch nie eine Frau so wütend auf sein dämliches Hupen reagiert hatte.
»Okay, ich habe Sie gehört, Freundchen«, schnauzte ich ihn an. »Was wollen Sie?«
Er starrte auf meine Brüste und hob unwillkürlich die Hände, als wollte er sich schützen. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, was er vor sich sah: eine durchgeknallte Frau in einer Bluse voller Blutflecken.
Ohne ein weiteres Wort schloss er sein Fenster wieder, setzte zurück und fuhr in großem Bogen um mich und meinen Wagen herum, ohne dass er die Reifen durchdrehen ließ.
Ich starrte ihm wütend hinterher und hörte meinen rasselnden Atem, während das Blut in meinen Ohren rauschte.
Was für ein Arschloch.
Ich stieg wieder ein, lenkte den Wagen an den Straßenrand und ließ den Verkehr vorbeifließen. Ich zerrte ein putziges T-Shirt mit tanzenden Pekaris aus dem Plastiksack, zog mich um und stopfte die blutige Bluse unter den Sitz. Dann fädelte ich mich wieder in den fließenden Verkehr ein. Ohne dass mir bewusst gewesen wäre, wohin ich fuhr oder wie ich dorthin gekommen war, landete ich in der Innenstadt beim Sheraton Hotel. Vielleicht war es eine Flucht in die Richtung meiner letzten Begegnung mit jemandem, der mein wahres Ich kannte. Ich erkundigte mich bei der jungen Frau an der Rezeption, ob Zachs Zimmer noch frei war, Nummer 174.
Mit einem misstrauischen Blick auf den Müllsack in meiner Hand bejahte sie meine Frage. Froh, dass ich genügend Geistesgegenwart aufgebracht hatte, wenigstens mein T-Shirt zu wechseln, gab ich der Rezeptionistin meine Kreditkarte, erhielt den elektronischen Schlüssel und verdrückte mich mit meinem Plastiksack auf das Zimmer, bevor mich jemand zu Gesicht bekam. Ich musste schließlich irgendwo unterschlüpfen. Wenn ich in diesem Zustand weiterfuhr, riskierte ich, mich selbst und Unschuldige umzubringen.
Zach hatte am Morgen zuvor, als ich ihn zum Flughafen gebracht hatte, alles mitgenommen. Wahrscheinlich hatte er irgendwo dort seine Tasche gelassen. Für einen Moment fragte ich mich, was er vergangene Nacht gemacht hatte. War er in einer Bar gewesen und hatte sich betrunken? Oder war er nur ziellos umhergewandert? Ich konnte seinen Geist in diesem Zimmer spüren – traurig, aber wenigstens aufrichtig.
Ich setzte mich aufs Bett, stellte mir vor, was ich mit dem Kerl vorhin auf der Straße angestellt hätte, hätte er nicht nachgegeben, und versuchte mich zu beruhigen.
Man sollte meinen, dass Frauen von Natur aus gelassen sind und ihr Zorn sich durch das Östrogen in Luft auflöst. Dass ihre Wut über die vielen Toten, ein ganzes Leben voller Tod, wie ich es geführt habe, sich in Nähkursen, Bastelstunden und freiwilliger Arbeit bei den Spendensammlern des Tierschutzvereins auflöst.
Nun ja, vielleicht hatte ich mir etwas vorgemacht mit meinem Glauben, ich könnte eine solche Frau sein. Vielleicht ist es nicht immer so. Vielleicht soll es gar nicht so sein.
Ich kenne ungefähr ein halbes Dutzend Gedichtzeilen auswendig, darunter diese:
Geh nicht willig in die Nacht,
lass dein Alter flammen, wütend,
wenn die Dunkelheit erwacht,
lass es kämpfen um das sterbende Licht.
Ich bin Brigid Quinn, eine nicht mehr ganz junge Frau, und
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