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Der stille Schrei der Toten

Der stille Schrei der Toten

Titel: Der stille Schrei der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Ladd
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heisere Gekrächze meiner Stimme erkannte ich kaum. Abermals befeuchtete ich mir die Lippen und unterdrückte die aufsteigende Übelkeit. Ich durfte jetzt nicht in Panik geraten. Ich durfte nicht aufgeben. Vor mir saß doch Dottie. Meine gute Freundin Dottie. Für ihr Verhalten musste es einen Grund geben. Vielleicht hielt sie uns für jemand anderen, jemanden aus ihrer Vergangenheit. Geh der Sache nach. Frag sie, warum. Red es ihr aus. »Hey, Dot, warum hast du mich denn gefesselt? Ich dachte, wir wären Freunde. Bind mich los; mir tut die Schulter weh.«
    »Annie, Annie, dich halten immer alle für so klug, aber du bist es gar nicht, oder? Eigentlich bist du sogar ziemlich dumm. Seit zwei Jahren sitz ich dir nun schon so gut wie auf der Pelle, und trotzdem hast du keine Ahnung, wer ich bin und was ich gemacht habe.« Dotties Gesicht war plötzlich wie verwandelt, angespannt, als wäre sie eine völlig andere Person. Sie kochte vor Wut, ihr Gesicht war hochrot angelaufen. Meine Muskeln verkrampften sich. So wütend gefiel sie mir nicht. Ihre Stimme schnellte um eine Oktave nach oben, und ihr Singsang verschärfte sich. »Was Harve auch sagte, es ging immer um Claire. Claire hier, Claire da. Claire ist die beste Polizistin weit und breit. Claire hat Schlimmes durchgemacht. Claire ist die beste Freundin, die ich je hatte. Ich konnte das alles nicht mehr hören, weil ihr beide gelogen habt. Ich wusste, du bist nicht Claire. Du bist Annie. Du warst meine kleine Freundin, nicht seine.«
    »Dottie, bitte, hör mir zu. Meine Fesseln sind zu eng. Es bringt mich um. Bitte mach den Knoten etwas lockerer, damit es nicht so wehtut.« Hinter Dottie sah ich in dem Fenster in der Klappe über der Kohlenrutsche Blitze zucken. Draußen war es dunkel, und ich fragte mich, wie lange ich bewusstlos gewesen war, ob es noch dieselbe Nacht oder schon die nächste war. Der Donner grollte, und der Regen prasselte wieder. Ganze Sturzbäche ergossen sich gegen das Fenster. Ich hörte, wie der Wind in der Dunkelheit gegen etwas schlug.
    Harve stöhnte, und wir sahen beide zu ihm.
    Dottie sagte: »Oh je. Oh jemine. Die Hauptperson der Show wacht auf, und wir können nicht beginnen.«
    Mich überkam eine maßlose Wut, aber ich bemühte mich, mir nichts davon anmerken zu lassen. »Vergiss das, Dottie. Harve hat dir nie was getan. Er bewundert dich. In erster Linie geht’s hier doch um mich und nicht um ihn, oder? Um uns beide. Halt ihn da raus.« Ich behielt ihr Gesicht fest im Blick, während ich abschätzte, wie weit ein Fußtritt von mir reichte. Vielleicht könnte ich sie am Kopf treffen, sodass sie das Bewusstsein oder die Orientierung verlor. Aber solange ich gefesselt war, würde uns das nichts nützen.
    Der Singsang verschwand. »Aha, nun redest du Klartext. Du kriegst es endlich in deinen dicken Schädel rein. Es geht um dich, genau. Es geht darum, dass du leidest. Und sag mir, Annie, worunter könntest du mehr leiden, als zusehen zu müssen, wie ich deinen Freund bei lebendigem Leib vor deinen Augen zerlege? Wir tun so, als hätten wir es mit einem riesigen Barsch zu tun. Was meinst du dazu?« Sie griff nach einem großen elektrischen Tranchiermesser und steckte es an einem weißen Verlängerungskabel ein. Sie betätigte den Schalter, und ich sah die scharfen Klingen vibrieren und hörte das dumpfe Summen des Geräts.
    Ich starrte sie voller Abscheu und Entsetzen an. Wir befanden uns irgendwo am Ende der Welt. Ein Gewitter tobte über dem See, was die Suche nach uns erschwerte, wenn überhaupt jemand nach uns suchte. Es wusste doch niemand, wo wir waren. Kein Mensch würde kommen und uns retten. Niemand konnte Harves Schreie hören, niemand außer mir. »Dottie, so hör doch, mach das nicht, ich flehe dich an. Wir sind doch deine Freunde. Harve und ich, wir beide lieben dich. Das musst du doch wissen. Bitte tu ihm nichts. Lass ihn frei.«
    Dotties Zähne blitzten, und für einen Moment oder zwei sah sie fast normal aus. Dann kehrte der Singsang zurück. »Oh, okay, klar, du hast mich überzeugt. Also, ich binde dich und Harve jetzt los. Dann kannst du Bud anrufen und ihm sagen, wo ich bin, und er kann mich dafür einsperren, dass ich Suze und Sylvie und all die anderen umgebracht habe.« Ihre Stirn legte sich in tiefe Falten, als wäre sie plötzlich verärgert. Sie schaltete das Elektromesser aus und fuhr fort, das Hackmesser zu wetzen. Ich schaute Harve an. Er war nicht gefesselt, aber noch schwer betäubt. Dann flatterten seine

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