Der stille Schrei der Toten
jahraus, jahrein jeden deiner Schritte verfolgt. Ich bin dir überallhin gefolgt und habe nacheinander alle deine Freunde getötet. Manchmal dauerte es eine gewisse Zeit, bis ich herausfand, wo du hingegangen bist, vor allem nachdem ich deine Tante Kathy und deinen Onkel Tim in Pensacola umgebracht habe. Aber gefunden habe ich dich immer. Einmal habe ich dich für fünf lange Jahre aus den Augen verloren, aber in Los Angeles hatte ich dich wieder eingeholt, gerade rechtzeitig, um deinen Mann gegen dich aufzustacheln. Dazu brauchte ich ihn nur ein-, zweimal anrufen und ihm zuzuflüstern, dass du hinter seinem Rücken mit Harve vögelst.«
Dottie warf den Kopf in den Nacken und lachte, wurde aber sofort wieder ernst und sagte: »Dann hast du dich dieses eine Jahr lang vor mir verborgen, und ich konnte dich nicht finden. Aber weißt du was? Ich habe Harve ausfindig gemacht und ich wusste, früher oder später würdest du bei ihm auftauchen.«
Sie nickte selbstzufrieden. »Und so ist es natürlich auch gekommen, und wir sind wieder gute Freunde geworden, genau wie damals, als wir noch klein waren. Und irgendwie gefiel mir das auch, dich wieder um mich und dein ganzes Vertrauen zu haben. Manchmal habe ich den Grog, den ich dir zum Schlafen verabreicht habe, sehr stark gemacht. Dann bin ich zu dir rübergegangen und habe mich, solange du schliefst, zu dir ins Bett gelegt, aber davon hast du nie etwas bemerkt, oder? Besonders stark hab ich ihn an jenem Abend gemacht, als du zu Blacks Yacht hinausgefahren bist. Als ich später zurückkam, um bei dir zu schlafen, warst du schon weg.«
»Wer bist du eigentlich?«, brachte ich irgendwie heraus, denn vor lauter Angst konnte ich kaum sprechen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was Black mir gesagt hatte, als er im Ha Ha Tonka anrief und davon sprach, wer in seinen Augen all die Leute umgebracht hatte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, und nichts ergab wirklich Sinn. Etwas über diesen Jungen namens Thomas hatte er gesagt, aber diese Person hier war Dottie. Fast wäre ich durchgedreht. »Warum tust du mir das an? Was hab ich dir denn getan? Ich habe dich nie gesehen, bis Harve dich engagiert hat.«
»Du wirst bald alles erfahren, kleine Annie. Es wird sich alles klären. Es gibt so vieles, das ich dir zeigen muss, so vieles, das ich dir erzählen muss, seit wir Kinder waren. Ich habe Erinnerungsstücke gesammelt, weil ich wusste, dieser Tag würde kommen, und wir würden beide erleben, dass die Wahrheit ans Licht kommt.« Sie stand auf. »Und ich habe sie alle hier heruntergebracht, damit sie Harves Auftritt mit uns zusammen sehen können. Ist das nicht eine tolle Idee?«
33
Als Dottie im düsteren Teil des Kellers verschwand, kämpfte ich gegen meine Fesseln an und spürte, dass sie ein wenig nachgaben. Vielleicht könnte ich sie lösen oder das Rohr herunterreißen. Ich wand mich verzweifelt, bis sie eine hinten an der Wand stehende Kühltruhe öffnete. Das Licht im Inneren ging an und erhellte ihr Gesicht, sodass es aus der Dunkelheit herausleuchtete. Sie sagte: »Meine Familie ist mir sehr wichtig. Ich hab sie gern alle um mich. Dass sie dich nicht auf Anhieb mochten, hat mich ziemlich enttäuscht, aber das wird sich ändern. Wenn sie dich erst einmal kennen, Annie, lieben sie dich so wie ich dich liebe.« Sie kramte in der Truhe herum und holte dann einen von den halb verwesten Köpfen mit blonden Haaren heraus. Er befand sich noch auf dem Teller mit blauem chinesischem Muster und hatte noch das rote Partyhütchen obenauf. Oh mein Gott, bitte, bitte, hilf mir.
»Auf der Party hab ich gar nicht alle vorgestellt. Hab ich vergessen vor lauter Aufregung. Vielleicht war das der Grund für ihre anfängliche Verstimmung. Aber ich hol das jetzt nach. Momma, das ist Annie. Annie, das ist meine liebe Momma. Als Vater sie einbalsamierte, musste ich zusehen. Ich hielt ihre Hand, hab aber nicht geweint. Vorher hatte er sie aus Wut die Treppe runtergestoßen und gesagt, ich sei schuld und müsse ihm helfen, damit sie wieder lacht. Lacht sie nicht schön?«
Dottie stellte den Teller auf den Tisch neben Harves Kopf. »Das ist alles passiert, bevor du und deine Mutter zu uns gekommen seid. Aber Momma war die ganze Zeit bei uns. Vor dem Schlafengehen musste ich ihr immer einen Gutenachtkuss geben. Erinnerst du dich gar nicht mehr an mich, Annie? Vor dem Abendessen musste ich immer nach Hause laufen, damit er nicht wusste, dass wir im Bach gespielt hatten. Erinnerst du dich
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