Der stille Schrei der Toten
seine Familie genau im Auge behielt, um zu wissen, wann sie die Hände zum Gebet falten sollte. Er sprach ein Gebet über das Thema Pflicht und Gehorsam, bis die Uhr in der Eingangshalle mit lang nachhallenden Schlägen verkündete, dass es sieben geworden war. Beim dritten Schlag flüsterte er sein Amen, worauf alle drei zu ihren Servietten griffen und diese gemeinsam entfalteten. Darauf nahm er die Platte mit gebratenem Schinken, legte seiner Frau und dem Kind mit einer Gabel eine Scheibe auf, um dann den Rest auf seinen Teller zu legen. Den gedämpften Reis und die Schwarzaugenbohnen verteilte er nach demselben Muster. Dann warteten sie, bis er seine Gabel in die Hand nahm, und zusammen nahmen sie alle drei den ersten Bissen. An diesem Abend begannen sie mit dem Reis.
Keiner sagte ein Wort – es widersprach den Regeln, beim Abendessen zu sprechen, selbst im Flüsterton –, und wenn sie mit ihrer Portion fertig waren, bevor es acht schlug, saßen sie schweigend da und warteten auf die ersten sanften Schläge. An diesem Abend kam es um achtzehn Minuten vor acht zu einer unvorstellbaren Katastrophe. Das Kind ließ eine Salatgabel fallen, die klirrend zu Boden fiel und mehrere Reiskörner auf dem verblichenen, rot und braun gemusterten Perserteppich verstreute.
Alle erstarrten. Mutter und Kind blickten auf den Balsamierer und sahen wie die vom Hals ausgehende Röte in seinem Gesicht immer höher stieg und es zunehmend verdunkelte. Er legte seine eigene Gabel exakt eine Daumenlänge vom Teller entfernt ab und richtete den Blick auf das Kind, das, die Augen vor Schreck geweitet, einen jammernden Klageton aus den Tiefen seiner Kehle vernehmen ließ.
Die Mutter flüsterte: »Bitte, bitte nicht.«
Die Augen des Balsamierers richteten sich schlagartig auf sie, worauf eine so schnelle Bewegung erfolgte, dass sie die Faust überhaupt nicht sah, die ihr mitten ins Gesicht schlug. Den Schlag begleitete das entsetzliche Geräusch berstenden Knorpels, und das Blut spritzte nur so auf das weißleinene Tischtuch und sammelte sich in kleinen Pfützen zwischen den Reisresten auf dem Teller des Kindes. Es traf sie mit so großer Gewalt, dass sie auf ihrem Stuhl nach hinten umkippte und bewusstlos und blutend auf der Seite liegen blieb.
Der Balsamierer packte das Kind an den dünnen Schultern und schüttelte es so heftig, bis es nach Luft schnappte. Der Riese von Mann schleppte das Kind hinüber zur Mutter und warf es mit dem Gesicht nahe dem Kopf der Mutter zu Boden. Der Balsamierer glitt mit seiner Hand über Nase und Mund der Mutter, bis sie rot war und vom warmen Blut der Mutter glitschte; dann rieb er mit der blutigen Hand über das Gesicht des Kindes.
Der Vater flüsterte barsch: »Verstehst du, was du angerichtet hast? An dir klebt das Blut deiner Mutter, und es bleibt so lange, bis du deine Lektion gelernt hast. Bis zu deiner Geburt hat mir deine Mutter immer gehorcht. Wir waren glücklich, solange du nicht geboren warst, du widerlicher, dummer Balg. Und wehe, du wagst es, zu heulen. Sollte ich auch nur eine Träne sehen, setze ich deine Mutter zurück auf diesen Stuhl und schlage ihr noch einmal ins Gesicht. Ich schlage sie wieder und wieder, bis du endlich gehorchst. Hast du mich verstanden?«
Der Balsamierer setzte das Kind mit Gewalt wieder zurück auf seinen Stuhl, und das Kind aß den blutgetränkten Reis, während das Blut der Mutter auf seinem Gesicht zu einer braunen Kruste eintrocknete. Das Kind blickte kein einziges Mal mehr zu seiner Mutter.
Das Kind war fünf Jahre alt.
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Der Anruf erreichte mich um 5.35 Uhr auf meinem Handy. Als Detective im Sheriff’s Department des Bezirks Canton bekomme ich häufig Anrufe zu dieser frühen Stunde, in der Regel jedoch keine wie diesen. Die Aushilfe in der Zentrale sagte: »Das ist, würde ich mal sagen, ein richtiger Mord, Claire! Der Wahnsinn, unglaublich, oder?« Vermutlich dürfte Ihnen das einiges darüber sagen, was wir hier am Ozarks-See normalerweise als spannendes Ereignis empfinden. Eine Hochburg von Mord und Schwerverbrechen sind wir in unserem beschaulichen Missouri wahrlich nicht. Meistens schlagen mein Kollege Bud Davis und ich uns mit Gartenzwergdiebstählen herum, oder es hat jemand eine nicht jugendfreie Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Maudie’s Schönheitssalon hinterlassen. Das kommt mir in den Sinn, weil ich erst gestern so einen Fall hatte und ihn obendrein im Alleingang lösen konnte. Aber für mich ist das in Ordnung. Viele Jahre lang
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