Der stille Schrei der Toten
herbewegte. Black hatte eine Pause dringend nötig. Ich stand also auf und ging ins Bad, um ihm Zeit zu geben, sich wieder zu fangen. Manchmal kann ich direkt rücksichtsvoll sein.
21
Als ich wieder an den Tisch zurückkam, hatte sich Black wieder vollständig unter Kontrolle. Er sah mich an und sagte: »Für mich hat das was Ritualhaftes. Es gibt einen ganz bestimmten Grund, warum er seine Opfer enthauptet und die Köpfe mitnimmt. Den gilt es herauszufinden. Wie Claire bin ich der Meinung, dass es ein Spiel für ihn ist, eines, das er mittlerweile meisterhaft beherrscht. Die Frage ist, wie bewahrt er die Köpfe auf? Wie transportiert er sie? Wo tötet er das andere Opfer? Er muss einen bestimmten Ort haben, von dem aus er agiert, einen Ort, an dem er sich sicher fühlt. Wo er glaubt, dass ihn dort niemand entdeckt.«
»Meinen Sie etwa, er hat irgendwo eine Art Lager mit getöteten Opfern?«, fragte ich leicht angewidert. »Auf das er zurückgreift, wenn der nächste Mord fällig ist?«
Black nickte. »Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Viele Serientäter behalten die Opfer in ihrer unmittelbaren Umgebung, wie John Wayne Gacey, der seine Opfer im Keller seines Hauses in Chicago vergraben hat.«
»Und Jeffrey Dahmer, der seinen Kühlschrank zweckentfremdete«, fügte Harve hinzu.
Ich sagte: »Aber wie konnte er sich mit all den Sicherheitsleuten und Kameras auf dem Gelände von Cedar Bend frei bewegen und auch noch die Zeit dazu haben, sein Opfer nahezu bühnenreif in Szene zu setzen?«
»Sylvie ist Schauspielerin«, sagte Black. »Könnte sein, dass er eine bestimmte Szene nachgestellt hat. Irgendeinen Film oder ein Stück, das er besonders mag oder das etwas bedeutet für sein krankes Hirn. Die meisten dieser Täter agieren ihre Fantasien aus und beziehen genau daraus ihre Befriedigung. Meistens entwickeln sich ihre Fantasien weiter und werden zunehmend komplexer und gewaltsamer.«
»Gut wäre es, zu wissen, wer das andere Opfer war. Wenn wir herausfinden könnten, wo sie vermisst wird, hätten wir wenigstens einen Anhaltspunkt.« Harve sah mich an. »Gibt es Vermisstenmeldungen hier aus der Gegend?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe das am frühen Abend heute noch mal überprüft. Aber wenn sie obdachlos war oder nur auf der Durchreise, kann es auch sein, dass sie gar nicht als vermisst gemeldet wird.«
»Dasselbe gilt für junge Ausreißerinnen«, sagte Harve. »Mir ist mal ein Fall untergekommen, da konnte ein durchgebrannter Teenager, ein vierzehnjähriges Mädchen, identifiziert werden, indem man das Bild eines Zehenrings, der an der Leiche gefunden wurde, veröffentlicht hat. Außer dem Ring gab es keinerlei Hinweise. Der Mörder hatte ihn einfach übersehen.«
»War sie aus dieser Gegend?«, fragte Black.
»Nein. Sie stammte aus dem südlichen Indiana, aus einer Kleinstadt namens Clarksville. Ihr Kopf wurde in der Umgebung von Saltlake City, Utah, in den Bergen gefunden.«
»Mit Sicherheit wissen wir nur, dass der Mörder ungewöhnlich kaltblütig handelt.« Black lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Das machte er so, wenn er nachdachte. Es war mir schon einmal aufgefallen. »Zwar wurde sie geschlagen, aber sonst verlief das alles ziemlich leidenschaftslos. Da ist niemand ausgerastet, sondern kühl und überlegt vorgegangen. Von meiner Erfahrung her würde ich sagen, dass wir es mit einem Fremden als Täter zu tun haben. Ich finde, das ganze Arrangement war zu unpersönlich für jemanden, dem etwas an ihr lag. Gil Serna etwa oder sonst ein Lover. Oder ich, falls Sie mich immer noch auf Ihrer Liste haben.«
Dazu sagte ich nichts. Gut möglich, dass er noch auf meiner Liste stand, aber dann ganz unten. Stattdessen sagte ich: »Meinen Sie, der Täter hat sie ausgewählt, weil sie berühmt war?«
»Das hab ich mich auch schon gefragt, und ich halte es schon für möglich«, sagte Black. »Das hieße, der Killer ist publicitysüchtig, will sein Werk im Fernsehen sehen und sich immer wieder daran ergötzen. Könnte sein, er hat sich in seiner Fantasie bis zu diesem Punkt vorgearbeitet und fühlt sich unverwundbar.«
Harve nickte. »Wenn das der Fall ist, tigert er sicher nervös zu Hause auf und ab und wartet darauf, bis die blutigen Details ans Tageslicht kommen. Möglicherweise ist er stocksauer darüber, dass wir sie unter Verschluss halten.«
»Das könnte ihn dazu zwingen, erneut zu handeln, und zwar früher als er es ursprünglich vorhatte«, sagte Black. »Und
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