Der stille Schrei der Toten
dieses Mal in aller Öffentlichkeit, damit die Polizei sein Werk endlich anerkennt. Oder er ruft die Medien selbst auf den Plan. Bei mehreren Fällen, mit denen ich zu tun hatte, hat der Mörder mit den Reportern regelrecht zusammengearbeitet, um die gewünschte Publicity zu bekommen.«
»Ich glaube, er hat sich Sylvie ganz bewusst als Opfer ausgewählt«, sagte ich, das ganze aus anderer Perspektive bedenkend. »Er wäre doch sonst nie auf Cedar Bend gekommen, bei all den Sicherheitsmaßnahmen, die Sie zum Schutz Ihrer Gäste aufbieten, wenn er es nicht auf eine bestimmtes Opfer abgesehen hätte, ein Opfer, das dort logiert. Ebenso gut hätte er sich doch einen leichter zugängigen Ort aussuchen können, ein hilfloses Opfer, eine Obdachlose von der Straße. Warum sollte er es sonst riskieren, entdeckt zu werden, wenn es keinen zwingenden Grund dazu gab?«
»Aber warum dann ausgerechnet Sylvie?«, fragte Harve, worauf beide Männer sich gleichzeitig zu mir umdrehten.
Ich sagte: »Zum einen ist sie berühmt, was eine gewisse Medienaufmerksamkeit garantiert. Oder es hatte vielleicht was mit der Serie zu tun, in der sie spielte. Etwas im Charakter der dargestellten Figur, das ihn provoziert oder erregt hat. Manche Menschen sind geradezu besessen von Seifenopern und halten die darin vorkommenden Personen für real. Vielleicht hat er die von ihr dargestellte Figur gehasst bis zu dem Grad, dass er sie töten wollte. Vielleicht hat er sie schon lange verfolgt, bis er sie endlich hier erwischt hat, allein und schutzlos.«
»Sylvie hatte darin die Rolle des lieben und braven Mädchens«, sagte Black. »Eine Moralistin, die sich immer genau richtig verhält und das auch von anderen wie selbstverständlich erwartet.«
Ich hob eine Augenbraue. »Einen Psychopathen könnte das auf die Palme bringen.«
»Hast du was über ihre Schauspielerkollegen aus dieser Serie in Erfahrung bringen können?«, fragte Harve.
»Bud hat sich erkundigt, was fanatische Fans betrifft, oder ob es Fälle von Stalking gegeben hat, aber da scheint nichts Außergewöhnliches vorzuliegen. Marc Savoy kommt als Täter nicht in Frage, weil er zur Tatzeit mit ein paar Fischern aus seiner Gegend in einer Kneipe saß. Bud hat sich Sylvies Fanpost geschnappt und die anderen Schauspieler aus der Serie interviewt, als er in New York war. Er will jetzt sehen, ob sich dort irgendwelche Hinweise finden.«
Während ich sprach, war Harve mit seinem Stuhl in die Küche gerollt und mit drei eisgekühlten Flaschen Bier wiedergekommen, die er in der Mitte des Tisches absetzte. »Was lässt sich über das Isolierband sagen, Nick? Hat das Ihrer Meinung nach eine Bedeutung?«
»Wenn es über den Mund verläuft, steckt meist die Absicht dahinter, das Opfer zum Schweigen zu bringen. Etwa wenn ein missbrauchter Sohn das ständige Genörgel und Gemecker seiner Mutter satt hat, oder so was in der Art. Ähnlich verhält es sich, wenn es über die Augen verläuft. Dann soll das Opfer den Täter bei seinem verbrecherischen Tun nicht sehen. In diesem Fall war es, glaube ich, zunächst eine Disziplinierungsmaßnahme, dann erst kam der Zweck hinzu, den Kopf zu halten.« Ich sah, wie sich Black erneut darüber klar wurde, dass es sich nicht um irgendein Opfer handelte, sondern um Sylvie, die da an einem Stuhl gefesselt unter Wasser saß. Harves Blicke trafen mich, als Black seinen Stuhl zurückschob und auf die hintere Veranda hinausging. Eine Weile hatte er sich ganz gut gehalten, aber auch Nicholas Black war nur ein Mensch.
Ich sagte: »Er hat heute Abend eine Menge durchgemacht und ist noch nicht wieder so recht auf dem Damm.«
»Er soll nach Hause gehen. Es ist noch zu früh, egal wie er selbst es sieht. Lass mich die Sache noch mal ansehen und überdenken, und komm morgen wieder. Dann gehen wir’s gemeinsam noch mal durch. Sag ihm, ich schick ihm die Berichte über ähnliche Fälle, wenn ich sie komplett ausgedruckt habe. Er kann sich auf mich verlassen.«
»Okay.« Ich stand auf und warf einen Blick nach draußen. Black war nirgendwo auf der Veranda zu sehen. »Brauchst du was, Harve? Lebensmittel oder sonst was?«
»Nein. Dot hat mich versorgt. Es sind Aufläufe da und Tiefkühlpizza.«
»Wann kommt sie denn wieder?«
»Am Montag oder Dienstag. Sie fehlt mir, aber sie muss auch mal frei haben. Mit mir ist es ja auch nicht immer ganz einfach.«
»Du bist ein Teddybär, und Dottie weiß das besser als irgendjemand sonst. Pass auf dich auf und läute mit der Glocke,
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