Der stille Schrei der Toten
wenn du mich brauchst.«
Als ich ging, sagte Harve noch: »Sei nicht so streng mit dem Typen. Es ist nicht zu übersehen, dass er die Kleine sehr geliebt hat.«
»Ja, ich weiß. Bis morgen.«
Black stand, als ich die Treppe hinunterging, ein Stück weit vom Haus entfernt. Er hatte die Hände in die schmalen Hüften gestützt und starrte auf den dunklen See hinaus. Ich hatte schon öfter gehört, wie sehr er den See liebte, und nun glaubte ich es. Auf mich hatte der See auch eine beruhigende Wirkung, besonders nachts. Ich sah auf die stille Bucht hinaus und beobachtete ein Boot nahe dem gegenüberliegenden Ufer. Am Heck erstrahlte der schwache Schein einer Laterne, und ich spürte, jetzt wäre ich am liebsten auch draußen gewesen, um mich auf der glatten schwarzen Wasserfläche dahintreiben zu lassen, den Blick nach oben zu den Sternen gerichtet, ohne ständig an grausame Morde und abgetrennte Körperteile denken zu müssen.
Ich sagte: »Wir machen Schluss für heute. Harve ist müde und will ins Bett.«
»Lassen Sie uns zu Fuß zu Ihnen nach Hause zurückgehen.«
Ich befand mich fast schon auf halbem Weg zum Steg hinunter und blieb unvermittelt stehen. »Und was ist mit dem Boot?«
»Das kann Harve haben.«
»Harve kann es haben?«, wiederholte ich und wirkte wohl ziemlich ungläubig.
»Klar. Es ist wie alle unsere Cobalts behindertengerecht ausgestattet. So kann er, wenn er möchte, mit seiner Pflegerin gemeinsam hinausfahren.«
»Sie überlassen ihm Ihr Boot? Einfach so?«
»Ich habe ein Dutzend solcher Boote bei mir vor Anker liegen. Wenn ich Nachschub brauche, bestelle ich einfach welche. Harve unterstützt mich darin, Sylvies Mörder zu finden. Sehen Sie’s einfach als Zeichen meines Dankes.«
»Er ist sehr stolz. Kann sein, dass er es gar nicht annimmt.«
»Dann überreden Sie ihn dazu. Sagen Sie ihm, Dottie kann es benützen.«
Ich sah ihn ungläubig an, musste aber daran denken, wie oft Harve es sich schon gewünscht hatte, gemeinsam mit Dottie hinauszufahren, um zu fischen. In seinem Boot wäre das jedoch zu gefährlich gewesen. Black hingegen hatte recht: In dem großen Cruiser hatte der Rollstuhl bequem Platz, und es konnte nichts passieren.
Black sagte: »Es ist eine so schöne Nacht. Wir gehen zu Fuß. Ich kann dabei besser nachdenken.«
Die Nacht war dunkel, still und friedlich, und es blieb nur mehr wenig zu sagen. Er machte weit ausholende schnelle Schritte, was ich als Zeichen seiner inneren Anspannung sah. Aber ich war immerhin eins fünfundsiebzig und konnte gut mit ihm mithalten. Ich unterbrach seine Gedanken nicht, denn ich wusste, worüber er nachdachte, und es war mir recht. Ich befand mich momentan in einer Sackgasse und war froh über seine Hilfe.
Als wir bei mir angekommen waren, gingen wir zum Steg hinunter, und er griff zu seinem Handy und bat höflich darum, dass Tyler ihn an meinem Steg abholen möge. Während er noch telefonierte, stellte ich den Picknickkorb richtig hin, den er zuvor den Hang hinuntergestoßen hatte. Dann nahm ich auf dem Korb Platz und wartete geduldig so lange, bis Black zu mir herüberkam.
»Danke, dass Sie Harve das Boot geschenkt haben«, sagte ich, wobei ich an meiner Stimme feststellte, dass mich die Geste doch mehr berührte, als ich gedacht hatte.
»Ich mag ihn. Er ist ein guter Kerl. War er Ihr Kollege in L.A.? Sind Sie so Freunde geworden?«
Darauf ging ich nicht ein. »Er ist ein guter Freund von mir, er und Dottie, sie beide.«
»Was ist Ihnen denn in L.A. zugestoßen, Claire? Warum können Sie darüber nicht sprechen?«
Seine Nachdrücklichkeit schockierte mich. Die meisten Menschen akzeptierten es, wenn ich ihnen zu verstehen gab, dass ich über bestimmte Dinge nicht sprechen wollte.
Stirnrunzelnd stand ich auf, zur Flucht entschlossen. Für mich war es die beste Lösung zu fliehen, wenn es mir zu persönlich, geradezu gefährlich persönlich wurde. Das mochte man feige nennen, aber nun ja. Anscheinend jedoch war Black fest entschlossen, es mir nicht so leicht zu machen. Er packte mein Handgelenk und zog mich zurück.
Total verärgert wollte ich mich losreißen, aber er zog mich so nahe zu sich heran, dass unsere Nasen sich fast berührt hätten. Mein Herz schlug wie verrückt. Black atmete schwer, und seine Stimme nahm dieses heisere Ich-musss-dich-auf-der-Stellehier-niederwerfen-und-dich-nehmen-Timbre an. »Ich will dich küssen.«
Sofort und ohne Widerrede. Ich schluckte erst mal. »Tut mir leid, mein Guter, so weit wird’s
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