Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
Vom Netzwerk:
abgefahren ist. Denn es wird ziemlich viel zurückbleiben von ihm. Vor allem das schlechte Gewissen. Es ist nicht sein schlechtes Gewissen, jedenfalls nicht nur seines.
 
    Jahre sind vergangen. Der Vater empfindet es nicht so. Mondlicht fällt in den Garten, eine Lache helles Blut unter den Bäumen, ausgegossen aus einem gelben Eimer am Himmel. Seine große, schwere Hand gleitet auf die Rippen des Heizungskörpers und bleibt dort liegen. Sie sind heiß, brennen fast wie ein Waffeleisen. Ąrger befällt ihn. Hat die Nachtabsenkung versagt? Eigentlich müsste die Heizung jetzt kalt sein. Wie spät ist es überhaupt? Er muss es wissen, unbedingt. Er fingert nach dem Stock und richtet sich auf, dreht den Kopf. Da hinten schimmert ein kleiner grüner Punkt wie ein Glühwürmchen. Die automatische Steuerung der Heizung. Er muss sie überprüfen. Seit der Sohn hier war, funktioniert sie nicht mehr zuverlässig. Die Nachtabschaltung war aus gewesen, als er aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Auch die Automatik. Und der Lehnstuhl war verschoben, seine Füße nicht mehr dort, wo sie hingehören, nämlich in die kleinen Mulden im Teppichboden, die sich in den letzten fünfzig Jahren eingedrückt haben. Ja, so lange ist es her, ein ganzes halbes Jahrhundert, dass die Möbel ihren Platz bekommen haben durch seine Frau. Sie hatte für ihre harmonische Verteilung im großen Wohnzimmer gesorgt. Und als sie all die Jahre, in denen sie leidend war, im Ohrensessel saß, die geschwollenen Füße hoch auf dem Lederhocker, die Wolldecke über sich, schwer und voller Schmerzen und Abscheu, die große Sonnenbrille auf, damit die braunen Haselnussaugen geschont wurden, wenn das Fernsehbild zu grell und zu unruhig war, hatten sich die Vertiefungen im Teppichboden immer deutlicher abgezeichnet, obwohl seine Frau angeordnet hatte, Kunststoffschützer unter die Sesselbeine zu legen. Es hatte nichts genützt, und so hatten sie beide, nachdem sie darüber lange gesprochen hatten, schließlich die Druckstellen akzeptiert. Nur sollten keine neuen neben den alten entstehen, denn das wäre schrecklich gewesen. Man hätte nicht mehr wissen können, was die eigentlichen Mulden waren und wo das Möbel hätte stehen sollen. Unordnung wäre entstanden, Disharmonie. Und deshalb hatten sie immer peinlich darauf geachtet, dass hier kein Fehler passierte, und auch die Putzfrau angewiesen, nach dem Verrücken der Möbel beim Staubsaugen die Sessel, das Damensofa und die beiden Tische mit den Beinen genau in die alten Druckmulden zurückzuschieben.
    Aber als der Vater letzte Woche aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, hatte der Sohn den Ohrensessel verschoben. Was für ein Glück, dass er gleich einen Kontrollgang gemacht hatte, so schwer es ihm gefallen war. Er war noch ganz matt und schwitzte sehr dabei. Und auch das hatte er gleich bemerkt: Die Automatik der Heizung war aus. Aber am schlimmsten war, dass der Ohrensessel nicht mehr in seinen Mulden stand. Nun waren da neue Abdrücke im Teppichboden, die vielleicht nie mehr weggehen würden.
    Er dreht den Kopf und sieht hinaus in den Garten. Die helle Blutlache vor den großen Rhododendronbüschen, die wie Tiere mit glänzenden, krummen Rücken im Mondlicht hocken, ist größer geworden. Ein kleines Eichhörnchen mit buschigem Schwanz huscht seinem schwarzen Schatten nach. Als er mit dem Fingerknöchel gegen die Scheibe aus Isolierglas klopft, erstarrt es, macht Männchen und sieht ihn aus winzigen, glitzernden, starren Augen an. Als er wieder klopft, huscht es wie der Blitz die Birke empor und verschwindet im kahlen Baumwipfel. Wie hätte sich seine Frau über diesen kleinen Kobold gefreut! Sie mochte Eichhörnchen, weil sie so lebenslustig waren, so leicht und fröhlich und unbeschwert und immer geschäftig, aber auch umsichtig und darauf bedacht, sich von niemand schnappen zu lassen. Er lächelt bei diesem Gedanken, ohne dass sich seine Lippen dabei bewegen. Er lächelt, ohne den Mund zu verziehen. Sein Lächeln ist vollkommen unsichtbar, und das ist auch besser so. Es genügt, dass die Tote es wahrnimmt. Sie kennt ihn so gut, €›in- und auswendig€‹, hatte sie immer gesagt, dass sie ihn auch lächeln sieht, wenn er nicht den Mund verzieht, wenn seine Miene eisig ist wie jetzt, eingefroren über dem Schädel.
    Er packt mit der einen Hand den Stock an der Krücke und mit der anderen die Lehne des Damensofas. So hat er sicheren Halt. Das hat er damals auf den Schiffen gelernt. Eine Hand für den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher