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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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vor der Uhr und lauscht. In seine Schwerhörigkeit dringt wie durch ein dickes Kissen das Ticken der Uhr. Aber auch dieses andere Geräusch, das Klopfen eines Fingerknöchels gegen eine verschlossene Tür. Jemand ist drinnen in der Uhr und will hinaus. Jemand, der gefangen ist in diesem Sarg aus Sekunden, Minuten, Stunden, Jahren, Jahrhunderten, Ewigkeiten. Er legt das Ohr an die Tür aus Fichtenholz und lauscht. Lauschen strengt ihn an, es ist, als ob er mühsam einen Weg freischaufeln muss zwischen seiner Taubheit und den Geräuschen der Welt. Das Klopfen ist lauter geworden. Ob das Pendel schief hängt und von innen gegen den Kasten scheuert? Seine Hand tastet nach dem Schlüssel, dreht ihn behutsam und öffnet die Tür des Uhrengehäuses. Tatsächlich berührt das Pendel bei seinen Schwingungen die Bleigewichte. Er muss unbedingt das Gehäuse neu justieren.
    Er nimmt den Stock und tastet sich die Kellertreppe hinab, um dünne Holzblättchen zu holen. Dann, zurück bei der Uhr, stemmt er sich gegen sie und versucht die Blättchen unter die vorderen Füße des Gehäuses zu schieben. Immer hat die Uhr ihm Sorgen bereitet. Wie oft schon musste er sie wieder zum Leben erwecken. Er schwankt, weil plötzlich Seegang im Teppich ist. Auch die Uhr schwankt. Er versucht, sie festzuhalten. Doch vergeblich. Sie fällt wie ein Baum. Er hört, wie die Bleigewichte im Gehäuse poltern. Er sieht zu seinem Schreck, wie Sprünge im Glas erscheinen, ähnlich wie Risse in tauendem Eis. Sie liegt da, gefällt, tot, umgebracht. Er liegt neben ihr. Auch er gefällt, zwei Krieger, im Kampf gegen die Vergänglichkeit gefallen. Stunden, Tage, Jahre quellen aus dem gesplitterten Holz. Obwohl das Werk jetzt stumm ist, tot, hört er sein Ticken weiter. Es ist einfach in seinem Ohr. Die Ursache, dieses Gleiten der Zähne über die Hemmung, ist nicht nötig. Die Zeit, ihr Herzschlag, das Ticken ist immer da. Dies ist die einzige Form von Ewigkeit, die ihn erwartet.
    Er dreht sich auf die Seite und sieht, dass die Teppichfransen nicht gekämmt sind. Sie sind es schon lange nicht mehr. Das ist der Beweis dafür, dass seine geliebte Frau nicht mehr existiert. Sie hatte immer dafür gesorgt, dass die Fransen gekämmt waren. Er erhebt sich mühsam und packt den länglichen Sarg, der dort am Boden liegt. Er richtet ihn mit großer Mühe auf. Er wird nicht mehr versuchen, die Uhr wieder zum Gehen zu bringen. Jetzt ist die Zeit gekommen, das Schiff zu wechseln.
 

 

Kapitel 32
    D ie Dreharbeiten hatten immer noch nicht begonnen. Offensichtlich zog sich die Sache länger hin als erwartet. In der Zeitung erschien ein Artikel über das Filmprojekt €›Marconi€‹. Es gäbe Schwierigkeiten mit dem Produzenten.
    Der Herbst kam mit seinen Stürmen, seinem Regen, seinen kurzen Rückfällen in den Sommer, in denen sich der Strand wieder belebte. Carla hatte, als sie ausgezogen war, alle ihre Bilder mitgenommen außer dem von Ugos Garten. »Ich schenke es dir«, hatte sie gesagt, »für alles, was du für deine Mutter und mich getan hast.«
    Ich versuchte die Leere, die Carla hinterließ, dadurch zu füllen, dass ich endlich ernsthaft an dem Piratenroman zu arbeiten begann. Ich interessierte mich auch immer stärker für den Turm, seine ungewöhnliche Architektur, diese starken Mauern, die ihre Stabilität allein vom Gewicht, der Form und der Anordnung der Steine hatten. Mörtel und Mauereisen gab es nicht. Der Riss an seiner Vorderseite hatte sich geweitet, aber das schien nichts an der gewaltigen Festigkeit seiner Masse zu ändern.
    In dieser Zeit erhielt ich einen ungehaltenen Brief meines Verlegers. Auch mein Vater schrieb. Er teilte mir mit, dass er bald sterben würde. Der Krebs zehre ihn schneller auf als erwartet. Er sei zwei Wochen im Krankenhaus gewesen zur Grunduntersuchung. Seitdem habe er die Tabelle seiner täglichen Gewichtsveränderungen abgebrochen. Er sei doch kein Eichmeister, für dieses rotte Schiff seines alten Körpers. Den Ohrenstuhl habe er ins Haus zurückschaffen lassen. Er sei zu unbequem. Er benutze jetzt einen elektrisch verstellbaren Krankenstuhl.
    Ich rief ihn an. Er klang nicht gut. Die Stimme war schwach, ein Rascheln wie dürres Laub. Dann telefonierte ich mit der Concierge. »Wir hoffen, dass er Weihnachten noch erlebt«, sagte sie mit seidiger Stimme. »Ich fände es wunderbar, wenn Sie bald kommen würden.«
    Ich rief in der Praxis seines Hausarztes an. Nach etlichen Versuchen erreichte ich ihn endlich. »Der Krebs ist
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