Der Strandlaeufer
einem Garten steht eine ältere Frau mit Gießkanne. Sie gießt ihre Dahlien, aber sie bewegt sich nicht dabei. Der Wasserregen aus der Tülle steht silbern in der Luft, wie bei diesen künstlichen Wasserfällen, die es in Gartengeschäften gibt. Der Sohn blickt eine Weile hin, aber die Tropfen sprühen immer weiter. Die Frau hat ein geblümtes Kleid an und blickt zu ihm hinüber, ohne sich zu bewegen. Es gibt noch eine andere Person, und die bewegt sich. Sie kommt immer näher, am Ehrenmal vorbei. Ein großes, blondes, schönes junges Mädchen. Sie hat enge weiße Shorts an und eine rosa Bluse. Sie geht über die Straße und begibt sich ins Wartehäuschen. Sie liest die Inschriften. »Das ist Monika«, denkt der Sohn, »oder Waltraud.« Erika kommt nicht in Frage. Erikas sind immer dunkel wie die Schreibmaschine des Vaters.
Nun geht der Sohn über die Straße. Er hat noch fünf Minuten Ewigkeit Zeit. Vielleicht vergehen sie schneller, wenn man sich bewegt. Der Sohn steigt über die rostige Kette aus Gusseisen, die das Ehrenmal umgibt. Nun gehört er selbst zu den Gefallenen, denn er spürt, wie die neun Toten ihn grüßen. Er geht hinter den Findling und stellt sich vor, wie sein Name plötzlich unter den neun anderen erscheint. Dann blickt er seitlich am Stein vorbei zur anderen Straßenseite. Der Wasserregen aus der Gießkanne ist noch genauso stark wie vorhin. Monika hat sich umgedreht und steht, halb von der Sonne beleuchtet, im Eingang des Wartehäuschens. Sie ist nackt. Ihre Kleider liegen vor ihr auf dem Bürgersteig verstreut. Der Sohn legt sein Ohr an den kühlen Granit und lauscht. Drinnen werden neun Namen geflüstert. Seiner ist nicht dabei. »Wann seid ihr gefallen?«, fragt der Sohn. »1916, vor Verdun«, flüstert eine Stimme. »Ich auch«, flüstert eine andere. »Ich auch, ich auch, ich auch.« Der Sohn weiß plötzlich, dass es das Laub des Baumes über ihm ist. Alle fünfhunderttausend roten Blätter flüstern »ich auch«.
Der Bus fährt vorbei. Am Ende des Dorfes wird er drehen und zurückkommen. Deshalb macht der Sohn sich auf. Das Wartehäuschen ist plötzlich sehr weit weg und die Straße sehr tief. Sie fließt grau und träge dahin, ein schmutziger Fluss voller Gefahren. Er sieht, wie Monika sich anzieht. Erst die Bluse überstreift, dann in die kurze Hose steigt. Als seine Schuhe den Asphalt berühren, spürt er das Zittern der Straße zwischen Anfang und Ende. Nur nicht untergehen, denkt der Sohn, während er beim Laufen Schwimmbewegungen macht und die Frau darüber zu lachen scheint, denn er sieht ihren roten Mund, der sich breit verzogen hat. Die ältere Frau aus dem Garten ist verschwunden. Nur die Gießkanne hängt in der Luft wie eine silberne Wolke, aus der Regen fällt. Die Straße macht eine Kurve, und man sieht den Bus nicht kommen. Man hört ihn nur. Es ist ein großer, grüner, stinkender Alligator, der seinen Rachen seitlich aufsperrt und alles verschluckt. Erst Monika, dann ihn. Er sitzt in der vordersten Sitzreihe. Draußen zieht die Landschaft vorbei. Die Straße biegt sich vor der Windschutzscheibe nach oben und verschwindet im Himmel. Ein umgekehrter, grauer Regenbogen. Als er sich umdreht, sieht er, dass die Straße sich hinter ihm aus den Wolken zur Erde zurückkrümmt. Sie fahren in einem riesigen Reif, der sich dreht. Eine Maus in einem Rad. Die Maus hat Angst vor der Katze. Sie weiß nicht, dass die Katze müde ist. Deshalb rennt die Maus um ihr Leben. Sie rennt und rennt, und das Rad dreht sich, und die Zeit vergeht, und so wird es noch lange sein, so lange, bis die Maus tot umfällt und das Rad zum Stillstand kommt.
Dann sitzt er im Zug, denkt an Monika und fährt über die große Brücke. Die Welt unter ihm, wie für Kinder geschaffen. Er weiß, dass in diesem Augenblick der Vater am Fenster sitzt und in den leeren Garten hinausstarrt. Es gibt keine Blumen mehr, keine Bäume, nicht einmal mehr Gras. Der Vater starrt mit kleinen, geröteten Augen auf den frisch geschnittenen Rasen, in dem nichts wächst außer der Angst zu vergessen. Der Vater möchte nicht vergessen. Wenn er nur eine einzige Winzigkeit vergisst, ist alles verflogen. Darum hat er seine Erinnerungen um sich versammelt. Lauter Augenblicke, die wie zahllose schwarze Vögel den leeren Rasen bedecken und nach Würmern picken. Der Vater schweigt, er rührt sich nicht, denn er hat Angst, dass sie davonfliegen, wenn sie etwas stört. Der Sohn blickt aus dem Zugfenster und weiß nicht, ob er wirklich
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