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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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wieder aktiv«, sagte er. »Das habe ich Ihnen ja beim letzten Mal schon gesagt. Meiner Einschätzung nach brauchen Sie sich keine allzu großen Sorgen machen. Sie sollten sich eher Sorgen um sich machen. Warum haben Sie sich nicht gemeldet? Wir haben inzwischen längst die Ergebnisse aus dem Labor. Kommen Sie bitte vorbei, wenn Sie Ihren Vater besuchen. Wir können dann die Sache besprechen und Maßnahmen ergreifen. «
    Das klang nicht gerade beruhigend. Ich beschloss, sofort zu fahren.
 
    Diesmal ging ich nicht erst in sein Haus, sondern gleich in das Altenheim. Die Totenhündin rief mich zu sich hinein. Sie umarmte mich. »Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Das wird Ihrem Vater gut tun. Er hat sich ziemlich verändert. Bekommen Sie keinen Schreck.«
    Ich ging nach oben und klopfte, obwohl die Tür angelehnt war. Er saß im Stuhl, die Sonnenbrille auf, und blickte mich an. Er war ganz klein geworden. Der beige Pullover schien leer zu sein, als habe man ihn über ein hölzernes Kreuz gehängt. »Du siehst es deutlich«, sagte er, »wie ich mich allmählich aus dem Staub mache. Du kommst gerade richtig zum Kirchgang. Setz dich. Es ist alles da.«
    »Aber es ist doch später Nachmittag. Das ist doch keine Kirchgangzeit.«
    »In meiner Situation schon«, sagte er ärgerlich. »Man verliert sein Verhältnis zur Zeit, wenn man bald eine Ewigkeit davon hat.«
    Ich machte heißes Wasser und füllte unsere Gläser. Wir sprachen wenig. Einmal sagte er: »Was ist los mit dir? Du siehst schlecht aus. Du solltest den Arzt konsultieren.«
    »Ich habe schon einen Termin.«
    »Zieh die Uhr auf, wenn du im Haus bist. Ich war in der letzten Zeit nicht mehr dort.«
 
    Innerhalb einer Woche verschlechterte sich sein Zustand enorm. Er verfiel deutlich, und zugleich ging ein enormer Lebenswille von ihm aus. Doch er verließ das Bett nicht mehr, wenn ich da war. Ich saß jetzt im Krankenstuhl. Während wir uns unterhielten, begriff ich plötzlich, warum mein Vater bei seinen Schiffsuntergängen immer als Letzter von Bord gegangen war. Am spektakulärsten, als sein geliebtes Schiff €›Südmeer€‹ vor Kirkenes von einem Torpedo getroffen worden war. Er sorgte dafür, dass alle 200 Besatzungsmitglieder heil in die Rettungsboote gelangten und vom Schiff ablegten, dann ging er über das mittlerweile schräge Deck ins Wasser, bei dessen Temperaturen er allenfalls eine ܜberlebenschance von wenigen Minuten hatte. Er hatte Glück und wurde inmitten der zahllosen treibenden Dinge von einem Begleitschiff erkannt und in letzter Minute aus dem Meer gefischt. Warum war er nicht mit in ein Boot gegangen? War es Mut? Wollte er dem Klischee des Kapitäns entsprechen, immer als Letzter von Bord zu gehen? Ich glaube, der wahre Grund war, dass er nicht akzeptieren wollte, dass das Schiff unterging. Er wusste es zwar rational, aber alles in ihm sträubte sich gegen diese Tatsache. So war es auch jetzt mit seinem Körper. Er wusste, dass er in den nächsten Tagen sterben würde, aber seine Seele weigerte sich, früher von Bord des Körpers zu gehen als unbedingt nötig.
    Einmal erzählte er mir, was er in der vorangegangenen Nacht geträumt hatte. »Ich träumte, dass ich Kapitän einer Bark war und mich mit meinem Schiff an einer Felsenküste befand. Stürmische und widrige Winde drohten, uns auf die nahen Riffs zu werfen. Ich konnte keine Rettungsmöglichkeit erkennen, sah aber an der Groß-Royalrah schemenhaft einen Bekannten sitzen, den ich als Onkel John Jakob Boysen erkannte. Ich rief ihn an und fragte: John, du sitzt ja oben und hast einen besseren ܜberblick als ich. Sag mir, werden wir raumen Wind bekommen, so dass wir uns von der Felsenküste in leger Wall freisegeln können, oder wird der Wind schralen, so dass es keine Hoffnung mehr für Schiff und Besatzung gibt? Der Wind schralt, war seine Antwort. Komm zu mir auf die Rah. Wir werden dann zusammen zugrunde gehen, wenn der Großmast bei der Strandung bricht und uns mit in die See reißt.«
    Am nächsten Tag war das Bett leer, als ich sein Zimmer betrat. Der Anblick traf mich wie ein Keulenschlag. Ich ging hinunter und betrat das Büro. Erika schüttelte mir mit sanftem Druck die Hand. Im Blick lag so etwas wie Kondolenz oder Anteilnahme. »Schwester Ingrid ist mit ihm zum Kanal. Er hatte den Wunsch, noch einmal Schiffe zu sehen.«
    »Aber wir sind doch zum Kirchgang verabredet«, stotterte ich. »Ich meine, wir wollten um elf zusammen Grog trinken. Er nennt es
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