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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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Mann, eine Hand für das Schiff! Jetzt ist er also beides, Mann und Schiff zugleich, und darum darf er auch beide Hände benutzen, um Halt zu finden, um nicht über Bord zu gehen bei diesem harten Wetter, diesem gewaltigen Sturm aus Ungeheuerlichkeiten.
    Langsam schiebt er sich voran, tastet mit dem Stock über den Boden wie ein Blinder. Dabei sieht er sehr genau. Er sieht alles, und er ist zufrieden. Das Deck ist aufgeklart. Die Beine des Damensofas stehen längst wieder genau in den alten Druckstellen, auch die des Ohrensessels. Nur beim Schaukelstuhl am Fenster ist es anders. Der macht keine Druckstellen, weil seine hölzernen Kufen breit genug sind, und deshalb darf er auch ein wenig auf die Reise gehen im Zimmer.
    Die Uhr schlägt kalt und blechern. Er versucht die Schläge zu zählen. Aber sie fallen zu schnell. Elf mögen es sein oder höchstens zwölf. Jedenfalls hat der Klöppel lange und oft geschlagen. Also ist es noch vor Mitternacht. Er tastet weiter, lässt die Lehne des Damensofas los, stochert mit dem Stock voran, als wolle er die Tiefe des Teppichbodens ausloten, aussingen wie ein Matrose im Bug eines Schiffes, das kaum Wasser unter dem Kiel hat. Aber seine Stimme ist tonlos. Sie ist von durchdringendem Schweigen, und so hört niemand, was er aussingt, außer seiner Frau, die ein überfeines Gehör hat. Es ist so empfindlich, dass sie es sogar hört, wenn beim Essen ein Brotkrümel auf den Teppich fällt.
    Jetzt packt er mit der freien Hand die Lehne des Ohrensessels wie eine Reling. Er verharrt. Jemand sitzt im Sessel. Seine Finger haben Haare gestreift. Ist etwa der Sohn noch hier im Zimmer? Das kann nicht sein. Der Sohn ist gestern abgefahren, in das, was er sein Zuhause nennt. Nein, es ist ihr Haar. Sie ist es, die nie von ihm ging, denn sie lebt in seiner Erinnerung so sehr, dass sie nun da sitzt im Sessel und er ihr über die dünnen Haare streichen kann. »Soll ich dir ein Kissen in den Rücken stopfen?«, fragt er laut. »Ja«, sagt er zu sich selbst. »Das ist eine gute Idee, mein Guter. Nimm das große Kissen vom Damensofa. Das kleine ist zu empfindlich. «
    Die Stille ist plötzlich noch tiefer als sonst. Tiefer als ein Abgrund, tiefer als das Meer am Ende der Welt. Seine Schwerhörigkeit ist es, die die Stille so tief macht. Es ist sowieso schon still im Raum, aber die Stille des Raumes verdoppelt sich durch seine Taubheit, und daraus entsteht ein widerwärtiges Geräusch. Der Lärm der Stille, wenn sie tiefer als ein Abgrund ist. Dann hört man auch nicht mehr das Rauschen des eigenen Blutes. Man hört auch nicht mehr die innere Stimme, in der man Selbstgespräche führt. Alles geht in diesem Lärm unter, der so stark ist, dass er sich selber betäubt mit diesem Gebrüll eines verwundeten Tieres, das in dieser doppelten Stille hockt wie in einer Höhle und Qualen leidet, die alle Vorstellung übersteigt. Er öffnet den Mund und stößt einen klagenden Laut aus, ein Ąchzen, das augenblicks in der abgrundtiefen Stille untergeht wie ein Stein, über dem sich Wasser schließt. Dann hört er doch etwas, wieder ist es die Standuhr draußen im Flur. Sie ist fast ein viertel Jahrtausend alt, und ihr Schlag kommt aus einer Zeit, in der jener Abgrund noch nicht existierte. Das verleiht ihm die Kraft, die Unbezwingbarkeit. Selbst wenn er völlig taub wäre, würde er diesen Schlag hören. Nie darf die Uhr deshalb stehen bleiben, sie ist das einzige Mittel gegen die abgrundtiefe Stille der Welt. Sein Vater hat sie jede Woche aufgezogen, auch sein Großvater, sein Urgroßvater und Ururgroßvater. Der Sohn wird sie nicht mehr aufziehen, denn er hat kein Gewissen, er weiß nichts von diesem Abgrund, den nur das Schlagen der Standuhr überspringt.
    Er packt den Stock erneut, tastet sich zur Tür, öffnet sie und knipst das Licht an. Sein Blick schweift durch den Flur. Alles ist an seinem Platz, das Segelschiff auf der Kommode liegt gut vor dem Wind, die Segel gebläht, der Kurs liegt an. Es ist ein Teeklipper mit kostbarer Fracht an Bord. Plötzlich hört er ein Klopfen. Es kommt aus der Standuhr. Sie tickt so wie immer, ein gleichmäßiges Geräusch bis auf die Stelle, wo die Hemmung auf die defekte Stelle des Zahnrades trifft. Jedes Mal scheint das Werk an dieser Stelle einen kleinen Protest von sich zu geben darüber, dass die Zeit hier ein wenig abgekürzt wird. Einen Laut des Schmerzes, die Amputation einer Sekunde, die sich im Laufe der Jahre zu einem riesigen Loch summiert hat.
    Jetzt steht er
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