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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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Kirchgang.«
    Sie sah auf die Uhr. »Er wird bald zurückkommen. Sie können getrost auf ihn warten.«
    Sie sah mich an, wie man einen Liebhaber ansieht, den man soeben für immer verlassen hat. Voller Mitleid und halbherzigem Bedauern.
    Ich ging wieder nach oben. Dabei fiel mir der große Strauß weißer Lilien auf, der auf dem Flur in einer Bodenvase stand. Die Leere des Zimmers bedrückte mich, und um das Warten erträglich zu machen, füllte ich den Wasserkocher am Waschbecken und schaltete ihn an. Dann öffnete ich die Flasche Rum, holte die Schale mit Würfelzucker und stellte die beiden Gläser hin, eines für mich auf die Fensterbank, eines für ihn auf den Nachttisch.
    Als es schon fast zwölf war, hörte ich sie kommen. Die Schwester schob den Rollstuhl ins Zimmer. Eine Decke lag über den Knien meines Vaters. Sein wachsgelbes Gesicht war zu einem Grinsen verzogen.
    »Wir waren doch zum Kirchgang verabredet«, sagte ich vorwurfsvoll. »Natürlich bist du wieder einmal mit einer Frau auf und davon.«
    Er lächelte zufrieden, und Schwester Ingrid sagte: »Als ich heute Morgen Ihren Vater versorgte, hatte ich das spontane Gefühl, ihm einen letzten Wunsch erfüllen zu sollen. Ich habe gesagt, Herr Boysen, ganz egal was Sie sich wünschen, ich werde es erfüllen. Da hat Ihr Vater gesagt, er möchte noch ein letztes Mal ein Schiff sehen. Deshalb sind wir zum Kanal. Und jetzt helfen Sie mir mal, dass wir ihn ins Bett bekommen. «
    Gemeinsam hakten wir ihn unter. Er war immer noch erstaunlich schwer, so geschrumpft er auch war. Es musste an seinen Knochen liegen. Als wir ihn aufgerichtet hatten, schloss er plötzlich die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sagte ganz aufgeregt wie ein kleiner Junge, der etwas Schönes erlebt hat: »Ich habe eben einen Blackout gehabt.«
    Mit einiger Mühe schafften wir ihn ins Bett. Er sah uns an. »Das war ein echter Blackout«, wiederholte er. Er griff nach dem Urinbeutel, der an seiner rechten Seite hing, und hob ihn über sich. Und dann sagte er einen Satz, den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde: »Das hier ist mein Lebensthermometer. Solange ich merke, dass der Beutel noch warm ist, weiß ich, dass ich noch lebe.«
    Ich wusste in diesem Moment nicht, dass es sein letzter Satz war. Mein Vater schloss die Augen und schlief ein. Ich aber saß noch lange an seinem Bett und trank aus seinem und meinem Grogglas abwechselnd in kleinen Schlucken.
 

 

Kapitel 33
    I n dieser Nacht schlief ich schlecht. Ich sah mich im Traum am Fenster stehen, und ich hörte, wie ich immer wieder den gleichen Satz sagte: Das Meer ist eine nässende Wunde am Horizont.
    Ich hielt es schließlich nicht mehr aus, stand auf und ging ans Wohnzimmerfenster. Der Garten war leer und grau. »Mutter«, hörte ich mich flüstern. Ich presste meine Stirn an die kalte Scheibe. »Vater«. Ich erschrak. €›Mutter€‹ klang irgendwie nach €›Warum€‹, €›Vater€‹ hingegen nach €›Was€‹. Und das Wort €›Sohn€‹, klang es vielleicht nach €›wo€‹? Ich war in einem offenbar hysterischen Zustand. Als die Standuhr schlug, klang es wie Hammerschläge auf eine eiserne Stille.
    Am Morgen aß ich hastig mein Frühstück. Dann ging ich schnellen Schrittes zum Altenheim. Ich war noch nicht ganz da, als mir die Totenhündin entgegenkam. »Ihr Vater ist nicht mehr bei Bewusstsein«, rief sie. »Aber er lebt!«
    Als ich das Zimmer betrat, sah ich es sofort. Dieser Mensch war bereits tief am Grunde eines Meeres von Bewusstlosigkeit. Er war nicht tot, aber er würde nie mehr auftauchen.
    Ich setzte mich in seinen Krankenstuhl und beobachtete den Körper, der dort lag. Es gab eine Stelle, an der das Pulsieren seiner Halsschlagader sichtbar war. Es war unregelmäßig, manchmal hörte es gänzlich auf, um dann mit erhöhter Frequenz wieder zu beginnen. Das rasselnde Geräusch aus seiner Brust war schrecklich. Manchmal setzte die Atmung aus, und auch ich hielt dann unwillkürlich den Atem an. Ich ertappte mich dabei, dass meine innere Erregung mehr und mehr in Müdigkeit, ja gar Gelangweiltsein überging.
    Plötzlich fing der Körper meines Vaters zu zucken an. Heftige Wellen liefen durch seinen Leib. Er bäumte sich auf, ohne die Augen zu öffnen. Ich ging zu ihm und legte meine Hand auf seine feuchte, kühle Stirn. Das Zucken hörte auf.
    Ich rief den Hausarzt an. »Es geht ihm schlecht«, sagte ich. »Ich fürchte, es geht zu Ende.« Er versprach zu kommen.
    Mehrere Stunden von der Form einer
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