Der Strandlaeufer
senkte und dass sich ihre Lippen bewegten, als murmelte sie ein Gebet. Scheu befiel mich, ich grüßte und lief weiter.
Ich ging zurück in meine Wohnung. »Ich weiß jetzt ein wenig von Marconi«, murmelte ich vor mich hin. »Aber ich weiß immer noch fast nichts von mir.«
Kapitel 6
U go, der Mann, in dessen Haus ich wohnte, war Gärtner gewesen. Er war zu Reichtum gekommen, da er mehrere Äcker am Meer besaß, die er zu völlig überhöhten Preisen als Bauland verkauft hatte, seit der Tourismus Jahr für Jahr anwuchs, so wie früher die Felder durch Urbarmachung des Sumpflandes gewachsen waren. Nun trugen sie Sommerhäuser statt Auberginen oder Artischocken.
Trotz seines beträchtlichen Vermögens war mein Hauswirt ein einfacher Mann geblieben. Er hatte sich zwar ein pompöses Haus bauen lassen, mit viel Marmor und einem offenen Kamin, aber seine Verhaltensweisen, sein Lebensstil waren aus dem alten, von ihm selbst gebauten Haus, in dem ich nun wohnte, mit in die Villa umgezogen. Zuweilen besuchte ich ihn in seiner modernen Küche. Auf dem Herd mit dem Ceranfeld standen die alten verbeulten Aluminiumtöpfe.
Ugo baute irgendwo in der Gegend seinen eigenen Wein an und kelterte ihn selber. In einem Schuppen standen große Fässer mit einer hellroten Flüssigkeit, die nach allem Möglichen schmeckte, nur nicht nach Wein. Zuweilen lud er mich in sein Allerheiligstes ein. Wir tranken dann sein Produkt aus irdenen Bechern, und während sich mein Magen zusammenzog, öffnete sich mein Herz. Ugo sprach kein Wort Englisch oder Deutsch. Mein holpriges Italienisch schien er kaum zu verstehen. Doch das tat unserer Kommunikation keinen Abbruch. Ugo lächelte und nickte, während ich versuchte, ihm verständlich zu machen, dass ich dabei war, ein Buch zu schreiben. Ugo nickte wieder und sagte anteilnehmend ›Piano, piano‹. Es war sein Lieblingskommentar, die Aufforderung, nichts zu überstürzen. Er hätte auch den lieben Gott mit dieser Äußerung bedacht, da ihm dessen Versuch, die Welt in sieben Tagen zu erschaffen, sicher viel zu hektisch vorgekommen wäre.
Tag für Tag stand Ugo im Garten, pflanzte, pflegte und erntete seine Tomaten, Zitronen und Zucchini. Er trug bei jedem Wetter das gleiche ausgeblichene grüne Hemd und eine kurze Hose. Außerdem alte, schwere Stiefel, die aussahen, als hätte er sie aus dem Krieg übrig behalten. Er sprach bei der Arbeit mit rauer Stimme mit seiner zumeist unsichtbaren Frau Maria, die irgendwo im Haus putzte, kochte, Wäsche wusch oder den schwachsinnigen Sohn versorgte.
Ugos Aussprache hatte nichts vom Singsang des Italienischen. Eher klang es wie das Bellen eines Hundes, der sein Revier akustisch absteckt. Doch er war trotz seiner harten Sprache stets freundlich, ausgeglichen, schlitzohrig und ganz offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt. Darin glich er seinem geistig behinderten Sohn. Der war groß, dick und hatte ein rundes, vollkommen leeres Mondgesicht. Er sprach nie ein Wort. Dafür redeten seine Finger, die pausenlos geschickt kleine Bälle bewegten. Seine Lippen waren zumeist zu einem stupiden Grinsen verzogen. Jeden Abend schickte ihn seine Mutter auf einem rostigen Fahrrad vor die Tür, und mit ihm fuhr er dann eine Stunde lang immer die gleiche kurze Wegstrecke auf dem Talweg hin und her, wobei sein fleischiger Mund anscheinend unhörbare Reden hielt, denn die Lippen waren in ständiger Bewegung. Die Familie wirkte wie eine glaubhafte Spielart der Trinität, wobei Maria die Rolle des Heiligen Geistes zukam, denn sie war die eigentlich treibende Kraft, sie hatte die Intelligenz, diesen Kosmos zusammenzuhalten. Ohne sie wären Vater und Sohn verwahrlost.
Nie wichen diese drei Leute auch nur ein Quäntchen von ihren Ritualen ab. Ugo pflanzend und erntend in seinem Paradiesgarten, Maria putzend und kochend im Gehäuse, der Sohn entweder bei ihr oder auf dem Fahrrad unterwegs. Doch eines Tages änderte sich alles. Ugo erlitt einen Schlaganfall. Es war eine Katastrophe, ein echter Weltuntergang. Nur der fahrradfahrende Mond behielt seine abendliche Umlaufbahn bei. Ugo aber musste die Gartenarbeit, die ihm so viel bedeutete, aufgeben. Er sprach jetzt noch undeutlicher und bewegte sich unbeholfen, eine hölzerne Marionette, die ein schlechter Spieler falsch bewegte, so dass sich die Fäden, an der sie hing, immer wieder verhedderten.
Er saß nun meistens auf einem weißen Plastikstuhl vor dem Eingangstor zu seinem Reich und starrte vor sich hin, ein
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