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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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Gesicht, die große, edel geformte Nase, der feste, schöne Mund, vor allem aber die engstehenden, jedoch klaren, sanft und klug blickenden Augen, all das sprach für einen unglaublich ehrenwerten und integren Mann, dessen hohe Intelligenz sich mit tiefer Menschlichkeit paarte. Es war ein ziemlich anderes Bild, als es das Buch vermittelte.
    Ich betrat die Straße. Es hatte wieder einmal geregnet. Das Pflaster der engen Gassen glänzte wie polierter Marmor. Als ich nach Hause kam, war der weiße Stuhl vor Ugos Garten leer. Ich erfuhr von seiner Frau, dass man ihn ins Krankenhaus geschafft hatte, zur Beobachtung, wie es hieß. Sie war sehr besorgt. Ihre Traurigkeit hatte etwas Stoffliches, wie es nur bei einfachen Leuten zu bemerken ist. Am folgenden Tag war auch sie verschwunden. Sie war ihrem Mann nachgefahren und wohnte nun wohl für einige Zeit bei einer Verwandten in Rom, um ihn täglich besuchen zu können.
    Kurz nachdem Maria fort war, erschienen fremde Leute auf dem Anwesen. Sie zogen in die Villa ein, übernahmen die Hausarbeiten und die Pflege des Schwachsinnigen, der inzwischen das Essen verweigerte. Seit sein Vater spurlos verschwunden war, hatte sich sein Zustand stark verändert. Er wirkte unruhig, und seine Hände waren noch mehr in ständiger Bewegung als sonst. Sein Gesichtsausdruck schien weniger stumpf. Ich hatte das Gefühl, er würde jeden Moment sein Schweigen brechen und uns allen eine Predigt halten über die Krankheit, den falschen Tod und das richtige Leben.
    Die neuen Bewohner waren Familienangehörige von Ugos Frau. Sie unterschieden sich wenig von Ugo und Maria. Die gleiche zu Reichtum gekommene Armut, die gleichen bellenden Stimmen, die bunten, billigen Kleidungsstücke. Nur eine Person war anders. Eine junge Frau von der perfekten Schönheit eines alten Porträts. Sie hatte ein madonnenhaftes Aussehen, wie es auch die Frauen bei Botticelli haben. Es wirkt auf den Betrachter distanzierend, weil es sie wie eine Gestalt gewordene Idee erscheinen lässt, die weit über die simplen Signale erotischer Anziehungskraft hinausführt, so als träume die Sinnlichkeit sich selbst, als würden Körper und Physiognomie solcher Wesen von einem Hauch der Unkörperlichkeit veredelt, der jeden triebhaften Wunsch als unangebracht und vulgär erscheinen lässt.
    Ich erschrak, als ich begriff, dass es sich um jene Person handelte, die ich vor einigen Tagen am Strand gesehen hatte. Hatte sie bemerkt, dass ich ihr damals nachgestarrt hatte?
    Ich lief ihr einige Male absichtlich über den Weg, aber sie nahm keinerlei Notiz von mir. Es war, als sei ich Luft für sie. Wenigstens bekam ich so Gelegenheit, ihr Gesicht näher in Augenschein zu nehmen, oder besser gesagt, ihr Antlitz, denn dieser veraltete Begriff entsprach ihrer Erscheinung viel mehr. Etwas Altes, dem Tode Nahes lag wie ein feiner Puder über ihren Wangen. Ihre Stirn war hoch und stark gewölbt, die Haare rotblond und glatt, die Augen mandelförmig und die Iris rehbraun. Die Pupillen wirkten auch im Sonnenlicht unnatürlich groß. Ihr Blick erinnerte an den von Leuten, die Tollkirschen gegessen haben. Ein Belladonnablick. Und war sie nicht wirklich eine bella donna?
    Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, mich in dieses Mädchen auf höchst altmodische Weise Hals über Kopf zu verlieben. Das machte es jedoch nur noch schlimmer. Jedesmal, wenn sie im Garten war, saß ich am Fenster und versuchte, sie zu beobachten, ohne dass sie es merkte. Ich hatte den Vorhang halb zugezogen und tat so, als würde ich in Marconis Biographie lesen. Immer wieder blickte ich über den Rand des Buches hinaus und folgte ihren Bewegungen, die von großer Anmut und Natürlichkeit waren. Sah ich dann wieder auf die Zeilen, die ich las, ohne sie wirklich aufzunehmen, schwebte ihre Gestalt wie eine bewegliche Vignette über dem Papier und verlieh dem trockenen Text eine hohe Spannung und Marconis Leben eine sinnliche Note.
    Den Stimmen, die sie riefen, entnahm ich, dass sie Carla hieß. Carla kümmerte sich rührend um Ugos Sohn. Sie brachte ihm sein Fahrrad, und sie ging mit ihm spazieren. In ihrer Nähe wirkte er wieder ruhiger. Einmal beobachtete ich, dass er für sie Weintrauben pflückte und sie mit den Früchten fütterte, was sie mit einem Lächeln geschehen ließ. Wie gerne hätte ich mit ihm in diesem Moment die Lebensrolle getauscht!
 

 

Kapitel 7
    I ch fuhr mit dem Zug nach Rom, um Ugo im Gemellikrankenhaus zu besuchen. Ehe ich sein Zimmer betreten durfte, musste

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