Der Strandlaeufer
hilfloses, kindliches Staunen im Gesicht über das, was ihm widerfahren war, während sein Sohn genau an dieser Stelle, wo der Stuhl stand, sein Fahrrad wieder und wieder wendete, um ins Tal zurückzufahren, nur um bald wieder aufzutauchen, immer noch stumme Monologe haltend. Sein Gesicht glänzte vor Glück über so viel Beredsamkeit.
Eines Tages überwand ich meine Scheu vor der Krankheit des Hauswirts. Ich holte einen zweiten Stuhl und setzte mich neben ihn. Ugo schien dies nicht besonders zu registrieren. Er schaute seinem Sohn bei dessen Fahrradkünsten zu. Vielleicht war er auch in der Lage, dessen sprachlose Reden zu verstehen, denn zuweilen nickte Ugo zustimmend. Auf mich aber wirkte seine Nähe als eine Art Stimulans für die Erinnerung. Denn mir fiel plötzlich etwas ein, das lange unter unendlichen Massen an Daseinsschutt begraben gewesen war.
Ein weißes Oval, an dessen Grund es hinabgeht in den Schlund der Hölle. Ein Kind beugt sich über den Rand des Kraters. Es hat Angst hinabzustürzen, doch erträgt es diese Angst tapfer, um der Liebe willen.
Es war eine rituelle Handlung, die meine Mutter eingeführt hatte, wahrscheinlich um mich besser lenken zu können. Immer wenn ich ›renitent‹ war, um eines ihrer Lieblingswörter zu benutzen, wenn ich zum Beispiel keine Fliederbeersuppe essen wollte oder die linke Hand beim Löffeln nicht auf dem Tischtuch liegen hatte, sagte sie mit beschwörender Miene: »Du hast wieder ein kleines Teufelchen im Kopf, und das musst du jetzt wegmachen. Dann bist du wieder ein braver Junge.« Darauf musste ich aufs Klo gehen, den Deckel hochheben, vor der Porzellanschüssel niederknien, den Kopf so tief wie möglich hineinstecken, mich mit einer Hand an die Stirn fassen und mit einer mehrfach wiederholten Bewegung den imaginären Teufel aus meinem Kopf zerren, ihn in die Schüssel schmeißen und die Druckspülung bedienen. Wenn ich ins Zimmer zurückkam, strahlte ich und sagte:
»Der Teufel ist weg.« Ich war wieder ein fügsames Kind, bis der nächste Anfall von Renitenz eine erneute Teufelsaustreibung nötig machte. Dies konnte mehrfach am Tag passieren, und so kam es, dass ich ein immer intensiveres Verhältnis zum Klobecken bekam. Auch heute noch reicht es, dass ich auf einer Toilette den Deckel hebe und die Spülung betätige, um augenblicks eine sonnige Miene aufzusetzen und geläutert von allem Bösen den Abtritt zu verlassen.
Im Ort gab es ein kleines Schreibwarengeschäft, in dem auch einige Bücher zu haben waren. Sie standen in einem Drehregal neben Postkarten und wirkten wie Werbebroschüren einer anderen Welt. Ich ging in den Laden, mit der Absicht, Schreibpapier zu kaufen, als ich sie bemerkte: eine Biographie Marconis. Obwohl ich mich innerlich heftig dagegen sträubte, erstand ich sie. Dann ging ich in eines der wenigen
Cafees, die noch geöffnet waren, und begann, in dem Buch zu blättern. Ich las mal hier, mal da einen Satz. Sie waren alle von einer Mischung aus Liebe und sanfter Kritik geprägt. Marconi wurde als ein positiver Mensch mit einigen Allüren dargestellt. Er war ein Genie, und das entschuldigte seine Ruhelosigkeit, seine offensichtlich egomanen Züge, seine
Vielweiberei, seine idiotische Eifersucht. Genies sind eben immer hochspezialisierte, autistische Tölpel, wahre Monster an Ichsucht. Sie neigen zur Verwahrlosung, sind Weltmeister im Lügen, weil sie so ihre Neigung zu Hypothesen schulen. Was einen Erfinder befähigt, sich aus der Zwangsjacke der Normen zu befreien und seine Entdeckungen zu machen, bedingt auch seine Verstöße gegen die guten Sitten und die Vorurteile der Braven. Es gibt einfach keine Kreativität ohne Dickköpfigkeit und moralische Verwerflichkeit. Und wenn es mir an diesen Talenten mangelte, wie ich zuweilen befürchtete, dann lag es vermutlich an jenem exorzistischen Ritual, mit dem mir so früh beigebracht wurde, den Teufel aus meinem Kopf zu vertreiben. Wenn ich heute zu schreiben versuche, dann beuge ich meinen Kopf über weißes Papier und beginne zu lächeln, ohne etwas Rechtes zustande zu bringen.
Ich schlug das Buch schließlich zu und zahlte. Dabei fiel mein Blick zufällig auf einen 2000-Lire-Schein, den ich zum Gedenken an die alte Währung dieses Landes im Portemonnaie hatte, und ich bemerkte zum ersten Mal, dass Marconi auf ihm abgebildet war, außerdem seine Dampfyacht ›Elettra‹, einige Hochantennen und ein Tisch, auf dem ein primitiver Sender aufgebaut war. Sein feines, schmales
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