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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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ich einen desinfizierten weißen Arztkittel anlegen. Ugos Frau saß auf einem Stühlchen neben dem Bett und tupfte den Schweiß von der Stirn ihres Mannes. Es war unerträglich heiß.
    Ugo lag mit ausgebreiteten Armen da wie ein Gekreuzigter, umgeben von Schläuchen, Flaschen und Instrumenten. Abgesehen vom leisen Surren eines Elektromotors herrschte Stille. Mir schien es die Stille der Ewigkeit zu sein, so abgrundtief war sie. Auch die Fliege, die hin und wieder aufflog und Kreise zog, machte keinerlei Geräusch. Gegen den weißen Hintergrund wirkte sie wie ein winziges Loch, durch das man in die schwarze Unendlichkeit des Weltalls blicken konnte.
    Ich trat nahe an das Bett heran. In Ugos teilnahmslosen Blick kam eine kleine Bewegung, ein Zittern der Pupillen. Da ich vor dem Fenster stand, fiel mein Schatten auf sein Gesicht. Er schloss die Augen ganz langsam. Maria ließ seine Hand los und begann laut zu beten. Ich trat zur Seite, und das harte Licht fiel erneut auf den Kranken.
    Seine Haut war ledrig und braun, von sieben Jahrzehnten gegerbt, von denen er weit über die Hälfte im Freien verbracht haben mochte. Aus dem Mundwinkel, in dem ein Schlauch hing, rann eine feine Speichelspur über sein Kinn. Glänzend, wie von einer Schnecke gezogen. Sollte ich nicht etwas zu ihm sagen? Mir fiel nichts Passendes ein. Wir hatten uns ja zu Lebzeiten kaum verständigen können. Zu Lebzeiten? Ugo lebte doch noch!
    Mein hilfloser Blick fiel auf das Kruzifix mit dem Schmerzensmann, das an der Wand über dem Bettende hing. Dieser Jesus wirkte völlig unbeteiligt, gleichgültig in seiner hölzernen Existenz. Die Fliege hatte sich auf der Dornenkrone niedergelassen. »Ugo«, flüsterte ich, als wollte ich einen Schlafenden ansprechen, ohne ihn dabei zu wecken. »Die Weinstöcke haben dieses Jahr enorm getragen. Es wird bestimmt ein guter Jahrgang.«
    So etwas wie ein friedlicher Ausdruck glättete sein Gesicht. Ein Auge öffnete sich. Ich sah, wie die Pupille sich hin und her bewegte, als suche sie etwas, vielleicht die Quelle der Stimme, die zu ihm gesprochen hatte. Mich schwindelte, als ich mich über Ugo beugte, um ihn besser verstehen zu können, falls er etwas zu sagen versuchte. Auch dieses kleine schwarze Loch im Zentrum seiner Augen schien auf unendliche Weiten zu gehen. Seine Frau hatte aufgehört, Gebete zu murmeln. Sie schien zu lauschen. Ihr Atem ging schnell und heftig. Ugos Lippen öffneten sich. Ich näherte ihnen mein Ohr und hielt den Atem an. Ich glaubte, ein fernes Geräusch zu hören, wie das Murmeln einer Quelle, das Fließen von Wasser über Steine, ein Rauschen, nichts sonst.
    Ich richtete mich auf und sah ihn an. Seine Augen waren wieder geschlossen. Die Fliege flog ihre Kreise, diesmal summte sie. Die Schwester kam ins Zimmer und bedeutete mir, dass ich gehen solle. Als ich schon in der Tür war, hörte ich seine Stimme, so klar wie noch nie zuvor. »Piano, piano«, sagte sie.
    »Buona sera, Ugo«, antwortete ich. Dann schloss ich die Tür, so leise es ging.
 
    Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Ugo in der Nacht gestorben war. Friedlich eingeschlafen, wie es hieß. Die Beerdigung sollte schon am folgenden Tag sein. ܜberall in der weißen Stadt tauchten Plakate auf mit der Todesanzeige und seinem Konterfei. Sie sahen aus wie Fahndungsfotos.
    Zwei Stunden bevor die Totenmesse beginnen sollte, ging ich in die Oberstadt. Ich trug eine schwarze Hose und einen dunklen Sakko, ein weißes Hemd und einen schwarzen Schlips, den ich mir geliehen hatte. Die Kirche gehört zu den wenigen Neubauten in der Oberstadt. Sie wirkt steril und kalt wie ein Zweckgebäude, und das ist sie im Grunde auch, denn hier wird die Ware Trost mit einer für Nordeuropäer kaum vorstellbaren Effektivität gehandelt.
    Das Kirchenschiff war voll besetzt. Ugo war eine bekannte Persönlichkeit gewesen. Mir fiel die große Zahl schwarzgekleideter Frauen auf, die sich über den Sarg warfen, dabei hemmungslos heulten, seufzten und die Hände rangen. Ich verstand die Worte des Pfarrers nicht, sie schienen jedoch von großer Wirkung zu sein, denn in der Kirche breitete sich bald eine Stimmung von heiterer Gelassenheit aus. Ich muss gestehen, dass ich nur Augen für die Person hatte, die schräg vor mir saß oder stand, je nachdem wie es das Ritual gerade erforderte. So nah war sie mir noch nie gewesen. Ich roch den Duft, den ihr Haar verströmte. Er war herb und erinnerte an den Geruch eines staubigen Weges, auf den erster Regen fällt. Neben

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