Der Strandlaeufer
Gesicht wirkte wie eine unvollendete Plastik aus einer etruskischen Werkstatt. Manchmal sah es aus, als sei sie frisch ausgegraben und als hingen noch Lehmreste an ihr. Als ich fragte, wo Carla geblieben sei, sagte sie, dass sie sich mit Kommilitonen auf einer Studienreise befände.
In Ugos Neubau hingen einige Gemälde, die von Carla stammten. Sie waren mit einem kleinen ›c‹ signiert und stellten allesamt Meeresansichten dar. Sie waren nicht schlecht, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig theatralisch. Die Farben waren übertrieben und die Strukturen des Wassers von einer manierierten Ebenmäßigkeit. Ich bat Maria, das Gemälde, das mir am besten gefiel, in mein Zimmer zu hängen. Ich starrte es stundenlang an. Das Meer schien sich in kleinen, regelmäßig geformten Wellen zu bewegen. Im Vordergrund war ein Strand zu sehen, auf dem mit dem Kiel nach oben ein blaues Ruderboot lag. Ich stellte mir vor, es umzudrehen, um dann mit Carla zusammen aufs Meer hinaus zu fahren.
Schließlich war ich wieder so weit hergestellt, dass ich an Krücken herumhumpeln konnte. Das verschaffte mir so etwas wie eine neue Reputation im Ort. Ich war offenbar nicht mehr ganz so sehr ein Fremder, weil ich einen sichtbaren Defekt hatte. Oft saß ich jetzt zwischen den alten Männern auf einer der sonnenbeschienenen Bänke. Viele hatten ebenfalls Krücken oder Spazierstöcke in der Hand, und so ragten unsere Gehhilfen schräg von der Bank weg wie die Riemen einer Galeere zum Boden hinab.
Es gibt eine Reihe seltsamer Zugvögel im Ort, die das milde Klima und die einfachen Annehmlichkeiten des mediterranen Lebens hier hat heimisch werden lassen. Die meisten sind alte Männer, die noch rüstig genug sind, sich selbst zu verpflegen. Unter ihnen war jemand, mit dem ich mich besonders gerne unterhielt: Luigi. Luigi war Strandläufer. So nennt man hier die armen Teufel, die ihr bescheidenes Leben dadurch fristen, dass sie zweimal am Tag bei jedem Wetter den Strand nach verwertbaren Dingen absuchen. Angetriebene oder im Sand verlorene und vergessene Objekte, die man zu Geld machen konnte.
Mit Luigi ließ ich mich zuweilen auf ein tiefsinniges Gespräch ein, das uns wohl vor allem dadurch Freude bereitete, dass es den Fäden unserer Gedanken wahllos mäandernd folgte. Wir ließen sie sich zwischen uns abrollen wie zwei Katzen, die mit einem Wollknäuel spielten.
Luigi war mir zum ersten Mal bei Ugos Beerdigung aufgefallen. Er hatte die ganze Zeit gelächelt wie über einen guten Witz, den er sich selbst erzählte. Er sah recht unbedeutend aus, mein neuer Freund. Immer trug er den gleichen aus den Fugen gegangenen braunen Anzug. Seine dünnen, grauen Haare waren vom Wind jeweils in eine bestimmte Richtung gekämmt, die mir verriet, ob er seinem Beruf in der südlichen oder nördlichen Bucht nachgegangen war. Bei Westwind kam er mit nach links gestriegelten Haaren vom nördlich der Stadt gelegenen Gestade zurück. Lagen die Haare nach rechts, musste er die Südbucht abgelaufen sein.
Einmal traf ich Luigi auf der Bank der alten Männer und lud ihn zu einem Caffee Macchiato in der nahe gelegenen Bar ein. Er hatte zwei Plastiktüten dabei, und ich fragte, was er diesmal für Trophäen gefunden habe. »Eine Sonnenbrille, zwei einzelne Schuhe, die leider nicht zueinander passen, drei Pfandflaschen und dies hier.« Er holte eine tennisballgroße Kugel aus feinen, braunen Fasern aus einer Tüte. »Fasern der Kokospalme, von den Wellen sorgfältig zu einer Kugel geknüpft. Keine menschliche Hand oder Maschine könnte das so perfekt machen. Ja, das Meer ist ein großer Künstler und ein Handwerker, der sein Metier versteht. «
»Aber das Meer hat weder Verstand noch Seele. Wie kann es da ein Künstler sein?«
»Bist du dir da so sicher? Vielleicht hat es mehr Seele und Verstand als wir beide zusammen. Nur eben auf eine andere Art, die wir nicht begreifen, weil wir immer nur von dem ausgehen, was wir an uns selbst kennen. Wir halten unsere Nasenspitze für größer als den Kosmos, weil sie unseren Augen näher ist als die Sterne. Nein, ich wiederhole, das Meer ist ein großer Künstler und ein ebenso begabter Handwerker. Es ist Spinner, Töpfer, Bildhauer, Maler in einem, und dazu noch Komponist, wenn man zu lauschen versteht.
Ich muss es schließlich wissen, denn ich sehe und höre seine Kunstwerke jeden Tag. Es stellt sie in der endlos langen Galerie der Strandlinie aus, mitten zwischen Müll und Seetang und toten Quallen. Soll ich es
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