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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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ihr saß jene alte Frau, die ich in der Oberstadt gesehen hatte. Auch sie rang die Hände, jammerte und klagte lauthals.
    Die Wunde, die der Tod einer Familie zufügt, schließt sich in diesem Land schneller als in meiner Heimat. Ugos Frau übernahm wieder das Regiment. Sie hielt die Zügel noch straffer als zuvor in der Hand, und bald vermisste anscheinend niemand mehr ihren Mann. Ich jedoch glaubte, ihn manchmal als Fata Morgana auf dem weißen Stühlchen sitzen zu sehen, und auch der Klang seines Namens, so wie ihn seine Frau gerufen hatte, kreiste zuweilen als unsichtbarer Vogel über dem Garten.
    Marias Verwandte waren endgültig bei der Witwe eingezogen. Carla studierte, so hieß es, Malerei in Rom, doch nachmittags war sie zu Hause. Meistens saß sie im Garten und las oder zeichnete. Abends war sie oft mit anderen Jugendlichen unterwegs. Offensichtlich genoss sie eine Sonderstellung in der Familie, denn sie wurde weniger als die anderen zu den Verrichtungen des Alltags herangezogen.
    Kurze Zeit nach der Beerdigung war der Idiot verschwunden. Die Familie hatte ihn in ein Heim geschafft. Sein Fahrrad stand verwaist an der Mauer, und ich fragte, ob ich es hin und wieder benutzen könnte, um damit in die Stadt zu fahren. Niemand hatte etwas dagegen.
    Ugos schwachsinniger Sohn war auf diesem klapprigen Gefährt mit traumwandlerischer Sicherheit die engsten Kurven gefahren. Ich bestieg es mit entsprechendem Vertrauen und trat in die Pedale. Kurz darauf stürzte ich sehr unangenehm. Die Lenkstange war nicht richtig fixiert gewesen, und das Vorderrad hatte sich zur Seite verdreht.
    Mein Fuß war beim Sturz zwischen Kettenrad und Pedale geraten und schmerzhaft verdreht worden. Ich humpelte stöhnend auf mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Das betroffene Fußgelenk schwoll binnen weniger Minuten stark an, und die Schmerzen wurden unerträglich. Kurze Zeit danach klopfte es. Es war Maria in ihrem schwarzen Trauerkleid. Sie fragte mich, ob man etwas für mich tun könne. Ich bat sie um Eiswürfel aus dem Kühlschrank und ein Handtuch. »Ich schicke Carla«, sagte sie.
    Carla erschien bald darauf mit dem, wonach ich verlangt hatte. Ich bat sie, die Eiswürfel auf das Handtuch zu legen, es zu einem Schlauch zusammenzurollen und um meinen geschwollenen Fuß zu drapieren. Während sie stumm meinen Wunsch erfüllte, sah sie mich kein einziges Mal an. Sie trug ein eng anliegendes, rotes Kleid. Als sie sich über mich beugte, verloren sich die Schmerzen, noch ehe der kalte Umschlag meinen Fuß berührt hatte.
    Ich versuchte, sie am Fortgehen zu hindern, indem ich sie in ein Gespräch verwickelte. Ich sprach Englisch, da ich davon ausging, dass ihr diese Sprache als Studentin vertraut war. Weil mir nichts Besseres einfiel, machte ich ein paar belanglose Bemerkungen zum Wetter und schloss daran die Frage, ob es hier um diese Jahreszeit immer so häufig und kräftig regnen würde.
    Carla war ans Fenster getreten. Helles Licht umflutete ihre Silhouette. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen. Ich machte eine Pause, in der Erwartung, dass sie meine Frage beantworten würde. Doch sie blieb stumm. Dafür geschah etwas Unglaubliches. Sie griff mit einer Hand hinter sich, öffnete den langen Reißverschluss an ihrem Kleid und schälte sich aus ihm. Ich wagte nicht, mich zu rühren, starrte sie nur an. Ihr eigener Schatten wirkte wie ein Unterkleid. »Das wollten Sie doch, mein Herr«, sagte sie in fast akzentfreiem Deutsch.
    »Warum machst du dich über mich lustig, Carla?«, fragte ich mit bebender Stimme.
    »Wenn Sie lieben könnten, würden Sie so etwas nicht sagen«, antwortete sie.
    Sie zog ihr Kleid wieder an. Es sah aus, als schlüpfte sie in ihre Haut wie eine Schlange in einem rückwärts laufenden Film.
    »Schade, dass Sie nicht lieben können. Sie können offenbar nur träumen.«
    Ich wollte etwas erwidern, doch sie ging, und ich sah wie hypnotisiert dabei zu, wie das Eis über meinem Fuß zu tauen begann und Wasser das Laken darum herum dunkel färbte. Die Schmerzen kehrten zurück, schlimmer als zuvor.
 

 

Kapitel 8
    M eine Genesung machte kaum Fortschritte. Ich hatte beständig Schmerzen und musste weiter das Bett hüten. Die Schwellungen gingen nur langsam zurück. Der Bluterguss wechselte seine Farbe von Blau über Violett zu Dunkelgrün.
    Carla kam nicht wieder. Vielmehr versorgte mich Maria. Man sah ihr die Verwandtschaft mit Carla nicht an. Maria war grobknochig und korpulent, ihr Haar tiefschwarz. Ihr

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