Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
Vom Netzwerk:
unter die Füße des Gehäuses schob.
    Schließlich hängte ich die Bleigewichte ein und stieß das Pendel an. Sie ging. Das gleichmäßige Ticken mit dem kleinen Stolperschritt schien die Dinge in diesem sonst so toten Haus wiederzubeleben.
    Am nächsten Tag war ich mitsamt den Seekarten pünktlich zur Stelle. Als ich eintrat, war mein Vater offenbar gerade mit Näharbeiten fertig geworden. Er zeigte mir stolz die weiten Kreuzstiche, mit denen er seinen Hosenboden enger gemacht hatte. »So haben wir früher Segel genäht«, sagte er. »Das sind typische Homeward-Bound-Stiche. So hat einmal ein Segelmeister zu mir gesagt, als er meine Arbeit begutachtete. Sie sind zu weit. Solche Stiche macht man, wenn man die Rückkehr nach Hause nicht abwarten kann.«
    »Ich habe die Uhr repariert«, sagte ich. »Sie geht wieder.«
    »Das ist gut. Wenn du fort bist, habe ich also wieder einen Grund, einmal die Woche ins Haus zu gehen, um sie aufzuziehen. Setz dich.«
    Er sah mich spöttisch an, als habe er es mit einem völlig Unwissenden zu tun. Dann hub er an: »Ich sollte zunächst vielleicht etwas zum pelagischen Walfang sagen. Weißt du überhaupt, was pelagisch heißt? Es bedeutet €›in der Tiefsee lebend€‹.«
    Mir war selber pelagisch zumute. Ich fühlte, wie ich im Meer seiner Worte immer tiefer sank. Die verbale und emotionale Rückkehr meines Vaters in seine glorreiche Vergangenheit begann mich inzwischen zu quälen. Doch spürte ich, dass es meine Pflicht war, ihm durch mein Zuhören zu dieser flüchtigen Wiederauferstehung zu verhelfen. Oder wenigstens durch meine Gegenwart, denn manchmal hörte ich nicht zu, sondern starrte bloß ins Grogglas. Nur einmal tauchte ich aus dieser Tiefsee auf, als ein Wort fiel, das mir panischen Schrecken bereitete: »Alles war unbeschreiblich dreckig und voller Grax, der einen entsetzlichen Gestank verbreitete.«
    Mir war plötzlich übel. Ich hatte das Gefühl, auf einmal ganz nahe am Abgrund jenes Albtraumes zu sein, der mich in meiner Kindheit und Jugend so sehr gequält hatte. Wie aus weiter Ferne hörte ich die monotone Stimme meines Vaters: »Grax ist ein Brei aus getrocknetem Blut, verwesendem Fleisch und faulenden Eingeweiden, in dem Knochensplitter stecken. Grax sammelt sich während der Saison auf dem Deck eines Mutterschiffes, obwohl man immer wieder versucht, es mit harten Wasserstrahlen und Dampf zu reinigen. An Walfangstationen auf dem Festland lässt man ihn einfach liegen. Man braucht gute Gummistiefel, um ihn zu durchqueren. «
    Während er weitersprach und ich von neuem nicht zuhörte, sah ich, wie sich die Wörter in Form von Blasen von seinen Lippen lösten, nach oben stiegen und an der Decke zerplatzten. Erst als er von der Rückkehr erzählte, wurde seine Stimme wieder vernehmlich für mich, leise zuerst, dann immer lauter: »Am 18. April befanden wir uns auf der Höhe von Helgoland, und während die Fangboote in die Elbe steuern konnten, mussten wir nach Tönsberg im Oslofjord weiterdampfen, um das norwegische Fangpersonal abzusetzen. Am 20. morgens kamen wir dort an. Die Ausbootung war schnell geschehen, so dass wir noch am gleichen Abend wieder Anker auf gehen konnten. Das war nun endgültig die letzte Station vor Hamburg. Am 22. April 1938 kamen wir endlich die Elbe binnen. Ich hatte mit meiner Frau bereits vom Kanal aus telefoniert. Sie war bei Mutter auf Föhr und wollte mich in Hamburg erwarten. Mutter wollte ursprünglich mitkommen, konnte dann aber doch nicht, weil sie Kurgäste erwartete. Der Weg von Elbe 1 nach Hamburg war uns allen natürlich viel zu lang. Vor 185 Tagen hatten wir Hamburg verlassen, und alle Mann an Bord freuten sich auf die Heimat, auf die Frauen und Kinder und Verwandten. Als wir Blankenese passierten, war alles, was nicht durch dienstliche Verrichtungen an einen Ort im Schiff gebunden war, an Deck. Ich stand mit den anderen Offizieren auf der Brücke mit dem Glas vor den Augen, Ausschau haltend nach meinem Reh.«
    Er hatte seiner Frau einst diesen Kosenamen wegen ihrer braunen Augen gegeben, und immer lag ein besonders zärtlicher Ton in seiner Stimme, wenn er ihn aussprach.
    »Der Hafenlotse kam bei Finkenwerder an Bord, und da sah ich schon eine kleine Hafenbarkasse voll winkender und rufender Menschen. Beim Näherkommen erkannte ich Reh und neben ihr meine Schwester Annchen, ihren Mann Paul und meinen Freund Gert von Mensenkampff unter den Winkenden. Diese Freude! Aber noch musste das Schiff in den Waltershofer Hafen gebracht

Weitere Kostenlose Bücher