Der Strandlaeufer
und Frankreich getroffen. Wir konnten also unsere Fangreise antreten. Der Abschied von Reh war schwer. Gerade in den kommenden wichtigen Monaten des Werdens unseres Kindes musste sie allein bleiben. Zwar hatte sie ihre Eltern, aber auf ihren Mann musste sie verzichten.«
Er nahm Platz und trank sein Glas leer. Wieder gelang es mir, seine Stimme auszublenden und zu einem pelagischen Wesen am Grunde meines Grogglases zu werden. Doch irgendwann traf mich die Kommandostimme meines Vaters wie eine Harpune und zog mich an die Meeresoberfläche empor: »Hol mal die Karte aus der Rolle, damit du dir ein Bild von meinen beiden Reisen machen kannst.«
Ich breitete die Seekarte auf dem Teppich vor seinem Krankenbett aus, direkt neben der mit Urin gefüllten Bettschüssel. Mein Vater verließ seinen Stuhl und kniete nieder, wobei er Groggläser und die Flasche als Beschwerer auf die Ecken der Karte stellte. Es war eine norwegische Seekarte, die die Gegend östlich von Grahamland zeigte. Am rechten oberen Rand war Kap Hoorn zu sehen. Die durchschnittliche Wassertiefe betrug 5000 Meter.
Mit seinem Finger fuhr mein Vater den über diesem Abgrund mit Buntstift eingezeichneten Kurs nach. Rot für die Saison 37/38, blau für 38/39. Es gab in beiden Farben Angaben über Windstärken, Himmelsbedeckung und Anzahl und Art geschossener Wale. Vieles war norwegisch geschrieben, doch in der Handschrift meines Vaters. Die Schelfeisgrenze war mit Bleistift eingezeichnet.
»Die Inselwelt, zwischen der wir uns bewegten, war höchst interessant. Hohe, eisbedeckte Berge an Backbord auf dem Grahamland, weniger hohe auf den vorgelagerten Inseln. Eigenartige Felsformationen, Deception Island zum Beispiel, eine fast kreisrunde Felseninsel mit steil abfallender Küste, eine schmale Einfahrt zu einem Naturhafen in der Mitte der Insel. Wir versuchten ganz nach Süden bis ans Festeis zu kommen und gelangten bis auf etwa 69 Süd und 76 West. Hier entdeckten wir Küsten, Inseln, Meeresarme und Durchfahrten, die auf unseren Seekarten nicht eingezeichnet waren. Wir machten uns den Spaß, den Verlauf der unbekannten Küstenteile auf dieser Karte einzuzeichnen und gaben der neuen Umwelt erfundene Namen. Es gab eine große Palaverbucht, wo sich zahlreiche Pinguine versammelt hatten. Ein Kap benannten wir nach unserem Kapitän Kap Jars. Hier war die Dauwalstraße und hier ein Gebiet, das wir ›zu den sechs Flagwal-Bergen‹ nannten.«
Mein Vater zog sich an der Armlehne des Ohrenstuhls hoch und setzte sich wieder. Seine Augen hatten diesen Entdeckerblick, den ich schon als Junge zuweilen bemerkt hatte. Ich wusste, dass er mich und die Dinge im Raum dann nicht sah, sondern dass sein Blick der Krümmung der Erdoberfläche in unbekannte Weiten folgte.
»Am 20.April des folgenden Jahres waren wir zurück in Hamburg. Mein Reh konnte mich diesmal nicht erwarten. Sie hatte ja mit Kinderkriegen zu tun und musste in Buchschlag bleiben. Mutter war nach Hamburg gekommen, und bei Annchen feierten wir ein fröhliches Zusammensein. Es hielt mich verständlicherweise nicht lange in Hamburg. Am 24. April, nachdem das Schiff an seinen festen Liegeplatz gebracht worden war, musterte ich ab und setzte mich gleich auf die Bahn. In Buchschlag fand ich meine Frau rund und dick, voll Sehnsucht auf mich wartend. Die Wiedersehensfreude war groß. Behutsam musste ich mit ihr umgehen. Wir wohnten wegen der Umstände bei den Eltern. Die ärztlichen Untersuchungen, die Reh periodisch hatte machen lassen, deuteten auf eine normale Geburt unseres Kindes hin. Am 10. Mai setzten die Wehen ein, und ich brachte meine liebe Frau in das Kreiskrankenhaus nach Langen. Gegen meinen Protest schickte man mich wieder nach Hause. Nachts, gegen zwei Uhr kam der erlösende Anruf vom Krankenhaus, dass ein gesunder Junge geboren worden war. Mich hielt es nun nicht mehr im Haus. In dunkler Nacht schwang ich mich aufs Fahrrad und radelte über die Felder nach Langen. Das Aufnahmepersonal hielt mich für nicht ganz zurechnungsfähig, ließ mich aber dann doch ein. Bald konnte ich auch in das Zimmer, in dem Reh und unser Junge untergebracht waren. Wie froh und glücklich waren wir zwei. John Henning sollte der Junge heißen, John nach meinem Onkel John Jakob, der in jungen Jahren auf See geblieben war, und Henning nach unserem Vorfahr, der sich auf unserer alten, ehrwürdigen Uhr verewigt hat, die jetzt wohl dank deiner liebevollen Pflege wieder schlägt.«
Kapitel 17
W ir gingen am nächsten
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