Der Strandlaeufer
Morgen zum Kanal. Ich hatte ihn untergehakt. Dabei spürte ich, wie dünn er geworden war, wie leicht. Eine Böe hätte ihn davon wehen können. Wir standen auf der Uferböschung. Die Signallampen leuchteten rot. Er sagte: »Das bedeutet, dass sich ein Weichenschiff nähert. Es hat Vorfahrt, die anderen müssen warten, entweder festmachen oder bei laufender Maschine stoppen.«
Wir starrten beide voller Erwartung mal in die eine, mal in die andere Richtung der Wasserstraße. Endlich waren über den Bäumen hinter der Kurve im Norden die Toppen eines Schiffes zu sehen. Der Körper meines Vaters straffte sich. Ich spürte, dass er erregt war. Dann erschienen die massigen Aufbauten und der Rumpf eines großen Schiffes. »Es hat im Vortopp einen schwarzen Ballon gehisst. Es ist das Weichenschiff«, rief er aufgeregt wie ein kleiner Junge. Langsam glitt das Fahrzeug näher. »Ein Containerschiff.« Ein Ton tiefer Enttäuschung war in seiner Stimme. »Eigentlich sind das keine richtigen Schiffe, sondern schwimmende Lagerhallen. «
Die weißen Stahlwände glitten vorbei und versperrten den Blick auf das gegenüberliegende Ufer. »Er fährt unter einer karibischen Flagge, um Steuern zu sparen. Das ist moderne Piraterie. Wahrscheinlich ist er unterbemannt. Kaum echte Seeleute an Bord. Kein Wunder, dass so viel passiert. Ich bin froh, dass ich noch eine andere Seefahrt erlebt habe.«
Inzwischen war das andere Ufer wieder zu sehen. Die Schraubenwasserwellen des weißen Molochs schwappten ans Ufer. Der Blick meines Vaters ging nach drüben, als sei die andere Böschung eine Kimm aus Gras und Steinen. Dann blickte er wieder diese langweilige Nabelschnur zwischen Nord- und Ostsee entlang, die einst aus seekriegsstrategischen Gründen auf Geheiß von Kaiser Wilhelm gebaut worden war, im Sommer jetzt ein Paradies der Angler und Yachtensegler mit ihren winkenden Frauen an Bord.
»Du sagtest vorhin, dass Weichenschiffe Vorfahrt haben. War das nicht damals dein Problem bei dem Unglück mit dem Muschelkutter?«
Er sah mich erschrocken an. Seine Augen tränten stark, vermutlich vom Kanalwind, der hier meistens herrschte. »Lass uns nachher darüber reden«, sagte er. »Beim Kirchgang. «
Schweigend gingen wir zum Altersheim zurück. Eines war mir inzwischen völlig klar: Mein Vater hatte noch einmal richtig angeheuert. Er versuchte sogar als Kapitän zu fahren wie zuvor in seinem Haus, nachdem seine Frau gestorben war.
Am Eingang erwartete uns die Totenhündin. Sie bat uns in ihr kleines Büro herein. Wir mussten nebeneinander Platz nehmen. »Es ist so schön, wenn sich Vater und Sohn verstehen«, sagte sie. »Sie bleiben uns doch noch eine Weile erhalten? «, fragte sie an mich gewandt.
»Ich muss bald wieder fort. Ich habe zu tun. Es geht darum, einen großen Roman zu schreiben. Über einen Piraten. «
»Aber das können Sie hier doch am besten«, sagte sie. »Bei diesem Vater!«
Als wir im Zimmer waren, war es genau halb zwölf. Der Blick meines Vaters verengte sich auf einen imaginären Punkt, der tief in ihm zu liegen schien. Dann holte er einige eng beschriebene Seiten aus einem Aktenordner und begann mit monotoner Chronistenstimme seinen Bericht. Es war, als befände er sich vor den Schranken eines Gerichts und solle als Angeklagter und Zeuge in einer Sache aussagen.
»Man schrieb das Jahr 1947, als ein grausamer und folgenschwerer Seeunfall, in den ich verantwortlich verwickelt war, mir sehr zusetzte. Wir waren am 9. Oktober um sechs Uhr zwanzig mit der ›Rolf Verhey‹, einem zum Muschelkutter umgebauten holländischen Bojer, mit einer Ladung Muscheln nach Dagebüll gefahren, um sie, nachdem sie in Wyk gründlich gereinigt worden waren, in einen bereitstehenden Eisenbahnwaggon zum Transport in das Rheinland umzuladen. Das musste alles mit Schaufel und Forke per Hand geschehen. Für diese Arbeit hatten wir deshalb neben der vierköpfigen Besatzung noch eine Löschkolonne von 13 Mann an Bord genommen. Es war ruhiges Wetter, fast windstill, aber neblig, Sichtweite etwa 200 m. Unsere Arbeit hatten wir gegen acht Uhr dreißig erledigt und dann sofort die Heimreise angetreten, da wir wieder zum Fischen auslaufen sollten. Von Dagebüll aus hatte ich mich noch telefonisch in Wyk erkundigt, ob und wann das Fährschiff ›Uthlande‹ ausgelaufen sei. Da die Sicht beschränkt war, konnte ich mir die ungefähre Begegnungszeit mit dem Schiff ausrechnen und erhöhte Aufmerksamkeit walten lassen. Beim Passieren der
Weitere Kostenlose Bücher