Der Strandlaeufer
Tonne 1 konnten wir in etwa 100 m Abstand das Motorboot ›Rungholt‹ ausmachen, das ebenfalls von Wyk nach Dagebüll unterwegs war. Obwohl es von uns rechtzeitig gesichtet werden konnte, bemerkte ich doch, dass der Nebel zugenommen hatte, seitdem wir Dagebüll verlassen hatten. Aus diesem Grund beorderte ich einen doppelten Ausguck an die Bugspitze, ließ die Maschine mit verminderter Geschwindigkeit laufen und regelmäßig Signale mit dem Nebelhorn geben. Etwa um neun Uhr zwanzig wurde vom Ausgucksposten das in schneller Fahrt laufende Schiff ›Uthlande‹ nahebei an Steuerbord voraus gesichtet. Wir waren eindeutig das ausweichpflichtige Schiff, denn er hatte uns an Backbord. Ein Manöver ohne Kursänderung, Grün an Grün, also ein Passieren Steuerbordseite an Steuerbordseite, war nicht mehr möglich. Auch die andere Möglichkeit, jetzt hart Steuerbord zu geben, wozu wir als das ausweichpflichtige Schiff verpflichtet gewesen wären, um in einem Manöver Rot an Rot den Entgegenkommer an Backbord mit unserer Backbordseite zu passieren, kam zu spät. Wir wären mit unserem Bug in seine Seite gelaufen. Ein Zusammenstoß war meines Erachtens unvermeidlich, und es ging jetzt darum, die Kollision so ablaufen zu lassen, dass keine Menschen gefährdet würden. Die meisten der Leute befanden sich im Vorschiff unter Deck, da die Platzverhältnisse auf einem Muschelkutter wegen des großen offenen Laderaums sehr beengt sind. Für mich ging es deshalb darum, den Stoß möglichst weit achtern aufzunehmen. Deshalb gab ich hart Backbord Ruder, wohl wissend, dass dieses Manöver, das man Rot an Grün nennt, nicht den Regeln der Seestraßenordnung entsprach. Wir wurden dann auch kurz vor dem Ruderhaus an Steuerbord von der ›Uthlande‹ getroffen. Unser Kutter sackte unmittelbar nach der Ramming übers Heck ab. Es gelang mir und den anderen im Ruderhaus befindlichen Besatzungsmitgliedern nur mit Mühe, den Raum durch die klemmende Tür zu verlassen und nach vorne zu laufen. Sämtliche Leute, die sich im Bugraum befunden hatten, konnten an Deck kommen. Aber ›Rolf Verhey‹ sank dann so schnell weg, dass wir alle Mann ins Wasser mussten. Die im Meer treibenden Leute versuchten sich, so weit möglich, an aufgeschwommenen Holzstücken festzuhalten. Ich hatte auch eine Holzplanke zu fassen bekommen, an der ich mich, in Lederbekleidung und Seestiefeln, anklammern konnte. In meiner Nähe schwamm der Muschelarbeiter Max Kannas, der sich nicht mehr über Wasser halten konnte und um Hilfe rief. Ich schwamm zu ihm und schob ihm mein Holzbrett unter den Bauch.«
Ich kannte die ›Rolf-Verhey-Story‹ in- und auswendig. Sie hatte mir schon als Kind gewaltigen Eindruck gemacht und sehr zu der Heldenverehrung beigetragen, die ich meinem Vater entgegenbrachte. Jetzt konnte ich sie nicht mehr ertragen. Ich versuchte wieder, seine Stimme auszublenden, sie durch Weghören zum Verstummen zu bringen. Doch diesmal gelang es mir nicht. Ich schlürfte laut beim Trinken und klammerte mich dann an anderen Nebengeräuschen fest. Im Kopf meines Vaters wimmelte es offenbar wie in einem Bienenstock. Zahllose Daten, Positionen, Koordinaten, Fakten, Verwandtschaftsbeziehungen, ein riesiger Schwarm von erlebten Momenten. Nach dem Tod meiner Mutter hatte er zu reden begonnen. Er hatte den Panzer seines Schweigens abgestreift und dafür einen neuen Panzer angelegt, den seines Redens. Er hatte zwar alles bereits fleißig und erstaunlich eloquent aufgeschrieben, aber nun wollte er es zusätzlich erzählen, mit Hilfe der Stimme beschwören. Dazu brauchte er einen Zuhörer, und da es der Sohn war, konnte er davon ausgehen, dass sein Zuhörer kompetent zuzuhören vermochte, kompetenter jedenfalls als seine Tischdamen. Vieles von dem, was er redete, war mir längst bekannt, vieles war und blieb interessant, dennoch ging es mir mehr darum, dem Klang seiner Stimme zu lauschen als dem, was sie erzählte. Ich wurde dabei das Gefühl nicht los, Zeuge einer verzweifelten Jagd zu sein, der Jagd nach dem weißen Wal der Vergänglichkeit, ein Unternehmen, das unweigerlich dem Jäger zum Verhängnis werden musste.
Er hielt, während er redete, die Augen geschlossen, ich inzwischen auch. Beide waren wir durch diese künstliche Dunkelheit verbunden. Mir schien es, als triebe ich in einer Strömung von unverständlichen Wörtern, die unaufhörlich aus seinem inzwischen fast zahnlosen Munde quoll. Sie war schnell und voller Wirbel und spülte mich ins Meer
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