Der Strandlaeufer
hinaus. »Ich erinnere mich noch gut an die Fahrten mit dem kleinen umgebauten Rettungsboot, das wir benutzten, um unsere Muschelfelder mit Pricken auszustecken, und auf denen du, mein Sohn, mich ab und an begleiten konntest.«
Ich sah die Szene immer noch deutlich vor mir. Ich durfte steuern, nach seinen Anweisungen. Ich hatte die Pinne in der Hand, und er wies auf einen dieser Birkenstämme mit dem Reisigbesen an der Spitze, einer sogenannten Pricke, die das Fahrwasser markierte. Ich war glücklich, denn ich war das einzige Besatzungsmitglied, das unter diesem Kapitän fahren durfte.
»Was ich im Zusammenhang mit der Kollision ›Uthlande‹ - ›Rolf Verhey‹ befürchtete und so belastend empfand, kam 1948 auf mich zu. Im Februar wurde mir von der Staatsanwaltschaft in Flensburg die Anklageschrift wegen fahrlässiger Tötung zugesandt.«
Ich sah die weiße Tischdecke im Wohnzimmer. Auf ihr lagen zwei kleine in Schiffsform geschnittene Pappstücke, die mein Vater immer wieder hin und her schob, um so die Situation der Kollision nachzustellen. Das gesetzeswidrige Ausweichen nach Backbord. Die dadurch bedingte Rettung der Leute im Bugraum, der Tod der drei Personen, die sich im hinten liegenden Maschinenraum befanden und keine Chance hatten. Das Wrack der ›Rolf Verhey‹ auf dem Strand, der aufgeplatzte Bootskörper, der Gummistiefel im Bilgenwasser, der wie der Teil eines Leichnams wirkte. War mein Vater ein Held? Zweifellos war er das. Ich raffte mich zu einer Frage auf: »Ist es wahr, dass damals die Frauen der elf Arbeiter aus dem Bugraum in den Gerichtssaal einmarschiert sind, um das Gericht für dich einzunehmen? Schließlich hat dein Manöver ihre Männer gerettet.«
»Woher weißt du das?«, fragte er misstrauisch.
»Deine Frau hat es mir erzählt.«
»Ja, sie war eine gute Frau. Von Buchschlag kamen damals schlechte Nachrichten. Vater Müller-Lässig war ernstlich erkrankt. Es ging ihm schon eine Zeit lang nicht gut, aber trotz intensiver Untersuchungen und Beratungen durch qualifizierte Ärzte konnte nichts Bedrohliches festgestellt werden. Aber nun wurden Muttis Briefe immer alarmierender, und so wurden wir an sein Krankenbett gerufen. Am 25. Juli fuhren deine Mutter und ich nach Buchschlag. Ihr Vater lag schon im Koma, so dass er uns nicht mehr erkannte. Am 28. Juli wurde er von einem schweren Krebsleiden erlöst.«
»Ich war auch dabei. Ich habe die Leiche gesehen.«
Was ich nicht preisgab, war jene grauenhafte Szene, die sich meiner Erinnerung eingegraben hatte. Die Schwester meiner Mutter schrie ihrer Mutter zu: »Jetzt, da ich ihn nackt gesehen habe, verstehe ich, dass du ihn immer mit anderen Männern betrogen hast. So ein kleines Glied.« Ich erblickte in jenem Moment durch die angelehnte Tür des Gästezimmers den Toten mit dem offenen Mund, dem heruntergesunkenen Kinn.
Mein Vater nahm seinen Faden wieder auf. »Wir blieben noch bis zu seiner Beerdigung und fuhren dann nach Wyk zurück ¦«
So sehr ich versucht war, wieder abzutauchen, es gelang mir diesmal nicht, die suggestive Erzählstimme meines Vaters auszulöschen. Doch die Strömung, in der ich trieb, war langsamer geworden, die Ufer des Flusses auseinander getreten. Die Mündung war nahe. Ich glaubte, bereits das Meer zu hören, als seine Worte erneut das ferne Rauschen übertönten und bis an mein Ohr drangen.
»Unsere Wohnung im ersten Stock hatte eine ideale Lage, war aber, wie so viele Behausungen in Wyk, eigentlich nur für Sommervermietungen eingerichtet. In den Monaten von April bis Oktober etwa hatten wir es gut dort mit der großen Veranda, von der man einen freien Blick über das Wasser bis nach Dagebüll hatte. In den Wintermonaten war es manchmal kaum auszuhalten. Bei scharfem Ostwind wurde es nicht warm in unseren Zimmern. Wenn der Wind das Wasser von der Küste weg in die Nordsee trieb, wenn Hohlebbe herrschte, war die Wasserversorgung im Haus unterbunden. Dann musste deine Mutter das kostbare Nass eimerweise von der Handpumpe im Hof nach oben schleppen. John Henning hatte wohl den besten Teil erwischt. Für ihn waren der Strand im Sommer, die Pötten und Eisschollen im Winter das ideale Spielgebiet. Er hatte sich körperlich und geistig sehr gut in der klaren Nordseeluft entwickelt. Er war groß geworden. Die Schule machte ihm überhaupt keine Mühe. In seiner Klasse war er immer einer der Ersten, was ihm nicht gerade viele Freundschaften einbrachte. Ohne dass es sehr deutlich wurde, hat er
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