Der Strandlaeufer
Angriff war vorbei. Immer noch hockte sie da auf den Knien und stützte sich ab mit den Ellbogen. Den Jungen unter sich. Sie wartete, schützte weiter. Dann die Sirene. Ihr langgezogener, schriller Ton tat weh in den Ohren. Er bedeutete Entwarnung. Er bedeutete, dass sie keine schützende Mutter mehr zu sein brauchte, kein Bunker aus Fleisch und Knochen. Fast packte sie Wehmut, als sie die Steppdecke abwarf und sich erhob. Das Licht der nackten Glühbirne traf ihren kleinen, verkrümmten Sohn, der sich dort auf der Matratze wie ein Igel zusammengerollt hatte. Die anderen verließen bereits den Keller. Jetzt sah sie, was während des Angriffs zerbrochen war. Ein Glas Erdbeermarmelade war aus dem Regal gefallen.
»Es gibt ein Geheimnis in meinem Leben, das ich dir leider nicht verraten darf«, sagt sie. Ihre Stimme ist plötzlich erstaunlich fest und klar. »Ich werde es wohl ins Grab mitnehmen müssen.« Sie schließt die Augen. »Lass mich jetzt bitte allein!«
Der Sohn gehorcht. Während er im Wohnzimmer am Fenster sitzt und in einem Buch liest, ohne eine Zeile wahrzunehmen, liegt seine Mutter nebenan im Bett, federleicht, vom Sterben bereits präpariert, fast alles entfernt, was verweslich ist, nur Haut und Knochen noch und die Augen. Sie spielt ein herrliches Spiel: zur Decke sehn und die Gedanken wie Seerosen emporwachsen lassen in diesem Totenteich. Wie sich die schlanken Stiele nach oben winden! Oben, weiß sie, treiben ihre Gedanken wie Seerosenblüten auf dem Wasser, gehalten von großen, herzförmigen Blättern, die weißen Strahlensterne der Blüten mit ihrer dottergelben Mitte zur Sonne geöffnet, während sie hier unten im modrigen Wasser liegt, gehalten von zahllosen feinen in den Schlamm gekrümmten Wurzeln. Sonst würde sie hochtreiben, weil sie zu leicht ist, und an der Sonne vergehen. Da ist es doch besser, dass nur ihre Gedanken dem Tageslicht ausgesetzt sind, dem Glitzern der Lichtreflexe, den Scherenschnitten der Baumschatten, die im Teichwasser zittern. Sie spürt durch die Stiele hindurch den Wechsel von dunkel und hell, von warm und kühl. Sie ist mit der Welt verbunden und doch vor ihr geschützt, weil sie hier unten liegt in ihrem Schlammbett und ihr nichts Böses mehr geschehen kann. Doch jetzt, was ist dort! Sie spürt es, dieses regenbogenfarbene Zittern, ganz sanft, ein Lufthauch wie von einem Geigenton. Es ist eine Libelle; mit ihrem langen, harten Leib berührt sie die Blüte: Den metallisch schillernden Schwanz taucht sie in die gelben Staubfäden, Wasserjungfer, schönes, gefährliches Raubinsekt. Sie aber starrt wieder die weiße Stelle an der Decke an, bis sie deutlich jenen verräterischen Brief sieht und ihn sogar lesen kann.
Wie genau sieht sie es vor sich, das Luftpostpapier! Sie erkennt ihre schöne, gleichmäßige Schrift, wie sie aus der Spitze des Federhalters fließt, ein sich auf einer lavendelblauen Wiese schlängelnder Tintenbach, grüne Tinte, die sie bevorzugt, seitdem Krieg ist, weil es die Farbe der Hoffnung ist. Es ist Krieg, und da braucht man schließlich Hoffnung. Der geliebte Mann ist weit fort im hohen Norden, dort, wo jetzt tiefster Winter ist, immerwährende Dunkelheit, so dunkel, dass selbst der Schnee schwarz aussieht wie Ruß. Oh, hätte sie nicht diesen Farbsinn. Vieles wäre einfacher. So aber muss sie es vor sich sehen, das kältestarre Gesicht ihres Mannes im schwarzen Schneesturm, während der grüne Tintenbach auf der lavendelblauen Wiese flüstert: »Mein lieber, guter Mann! Ob dich dieser und eine Anzahl meiner letzten Briefe je treffen wird, ist fraglich, und auch die Hoffnung steht auf schwachen Füßen.«
Sie kann nicht mehr stehen, nur noch liegen kann sie im Bett, im abgedunkelten Zimmer. Zu schwach sind ihre dicken Beine geworden, auf denen die Krampfadern mäandern, aber ihre Gedanken sind stark, sie wachsen und treiben nach oben ins Licht. Sie spürt, wie eine der Blüten leichter wird, sie schwingt, tanzt auf und ab. Ob die Libelle sie verlassen hat mit gelbem Blütenstaub an den Schenkeln? Sie wollte, sie könnte es sehen, aber hier unten im Schlamm ist das Licht zu schwach, hier trauen sich nur diese Larven her, diese gemeinen, hässlichen Allesfresser. Unglaublich, dass etwas so Schönes aus ihnen schlüpfen kann!
Einen Augenblick lang denkt sie nicht an ihre Gedanken, von denen sie nur die Unterseite über sich treiben sieht. Vielleicht ist es oben dunkel geworden, und die Blüten haben sich schon geschlossen wie jeden Abend. Sie
Weitere Kostenlose Bücher