Der Strandlaeufer
dreht sich mühsam zur Seite und tastet mit ihrer welken Hand nach dem Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Zitternd führt sie es zum Mund. ›Möwenmund‹ hat sie ihren Mann früher manchmal genannt. Ein schöner Name für einen schönen Mann mit einem schönen Möwenmund.
Sie schlürft und verschüttet ein wenig von dem Nektar, der sich in ihren Leib hineinbrennt, ohne dass sie es spürt. Das Glas ist leer, und sie stellt es mit zitternden Händen zurück. Es klappert wie eine Schlange, als sie es auf dem Nachttisch absetzt, so zittern ihre Hände. Dann schließt sie die Augen. Ihre Gedanken sind jetzt wieder in ihr. Rötliche Ausstülpungen, Triebknospen an der Wurzel.
»Ich sollte in Zukunft den Rum nicht mehr aus dem Glas trinken«, denkt sie. »Sondern wieder aus der Schnabeltasse. Morgen werde ich es ihm sagen.« Sie öffnet die rehbraunen Augen und starrt zur Decke. Eine Triebknospe platzt, und wieder windet sich ein Stiel empor mit der schwellenden Blüte. Als sie die Teichoberfläche durchbricht, öffnet sie sich ganz langsam, und als sie völlig offen ist, kommt die Libelle zurück. Sie hat den Brief dabei und bringt ihn zu ihr, damit sie ihn lesen kann. »Ich bin nun schon viele Tage ohne Nachricht von Dir und tröste mich mit dem Bescheid der Post, dass eine Anzahl Briefe verloren ging und die schweren Angriffe eine geordnete Beförderung nicht mehr zulassen. Jedoch ist dies auch ein schwacher Trost, und die stärkste meiner Sorgen ist nun deine Reise. Auf keinen Fall darfst du in Berlin übernachten, wenn überhaupt dort nach dem diesnächtigen schweren Terrorangriff ein Bahnverkehr möglich ist. Mit welchen Schwierigkeiten wirst du unterwegs kämpfen müssen, vor allem mit ungeheuren Verspätungen! Übernachte in kleinen Orten auf deiner Reiseroute! Ich denke doch, dass man die großen Zeitverluste deiner langen Reise bei deinem Festtagsurlaub anrechnet?!«
Sie weiß noch genau, wie ihr das Wort ›diesnächtigen‹ gefallen hat. Zu Weihnachten wollte er kommen, im vierten Kriegsjahr. Sie sehnte sich so nach ihm, dass sie ihn eigentlich nicht da haben wollte. Er würde ihre Sorgen als Zeichen der Liebe lesen, dort oben, am Rande des Eismeeres, wo jetzt die Schneestürme tobten. Ihre Sehnsucht war so groß, dass sie Angst vor seinem Besuch hatte, denn das Erlebnis war zu stark gewesen, sie hatte es noch nicht bewältigt. Bis heute hat sie es nicht bewältigt.
Eine zweite Triebknospe platzt, und aus der feuchten Wunde gleitet der Stengel empor, rankt sich schraubenförmig durch das körperwarme Wasser, entfaltet Blatt und Blüte. Zwei Seerosen, die dicht nebeneinander treiben. Die Blätter überlappen sich, die erste Blüte etwas kleiner, dafür frischer in den Farben. In der einen Blüte der Brief, in der anderen etwas, von dem sie jetzt nur einen winzigen Ausschnitt sieht: eine Waschkommode mit Krug und Schüssel aus Steingut. Es ist schwer, die Schrift zu entziffern, weil sie sie von unten sieht, gegen das Licht, durch das Papier hindurch. Alles ist vertauscht, die Buchstaben von rechts nach links geneigt, auch lesen muss man alles gegen den Strom. Sie weiß noch beinahe alles, was sie damals geschrieben hat. Nichts ist ausgedacht, alles nur erfunden.
»Nun ist mein innigster und wärmster Wunsch, dass es das Schicksal zulässt, dass wir den Frieden und das schönste Ausruhen in Deinem Heim schenken dürfen.« Diesen Satz liest sie zweimal, denn er kommt ihr seltsam vor. Er wirkt so besonders, so unaussprechlich genau. »¦ dass wir den Frieden... schenken dürfen.« »Wir«, das sind ihr Sohn und sie. Doch wem wird der Frieden geschenkt? Allen? Dem ganzen Volk?
Da entdeckt sie das kleine, über die Zeile geschriebene, eingefügte ›Dir‹. Sie hat es damals wohl erst beim Überlesen des Briefes gemerkt, dass sie die Anrede an den geliebten Mann einfach vergaß. Es kann nur an diesem starken Erlebnis gelegen haben, dass sie damals so zerstreut war beim Schreiben des Briefes.
Vorsichtig sieht sie zur zweiten Blüte hinüber, und nun ist etwas mehr in ihrem Blickfeld. Die Tapete, auch der Bettpfosten mit der Messingkugel darauf und im Vordergrund die hochgewölbte Bettdecke wie der Bauch einer Schwangeren, die ein totes Kind gebiert, und etwas, das sich hinüberschiebt, das ein tiefes Tal in die Bettdecke gräbt und so einfach quer über ihr liegen bleibt. Es ist ein behaartes Bein, lang und hart wie ein Libellenleib. Schnell sieht sie hinüber zur anderen Blüte.
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