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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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Kühlschrank gestellt, das weiß ich ganz genau.« In diesem Moment kommt der Vater ins Zimmer, und der Sohn wiederholt seinen Satz. Der Vater blickt ihn an, wie man einen Lügner anblickt, strafend und zugleich mit Blindheit geschlagen. Denn einen Lügner darf man nie zu deutlich ansehen, will man nicht Gefahr laufen, die eigenen Lügen zu bemerken.
    »Es steht aber keine leere Flasche auf dem Kühlschrank«, sagt der Vater. Er sagt es wie ein Todesurteil. Mit dieser endgültigen Stimme, bedauernd und zugleich triumphierend, denn Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind zweierlei. Der Sohn schaltet das Bild ab und beteiligt sich an der Suche. Auch er sieht in alle Ecken und zieht Vorhänge beiseite. Nur in den Eckschrank guckt er nicht. Er geht jedoch ins Schlafzimmer der Eltern, wo seine Mutter liegt und laut- und blicklos zur Decke starrt. Aus dem Radio kommen Nachrichten. »Mach das aus«, sagt die Mutter. »Die lügen ja alle doch nur. Keiner will es gewesen sein.«
    Der Sohn macht das Radio aus. Dann bückt er sich und sieht unter das Ehebett. Nichts ist zu sehen außer ein paar Fusseln und Faserknäuel aus den Wattewindeln, die der Vater der Sterbenden jeden Tag anlegt, weil ihre Schließmuskeln nicht mehr funktionieren.
 
    Am folgenden Tag sitzen sie im Schlafzimmer bei zugezogenen Vorhängen in einer künstlichen Dämmerung. Die Mutter mit mehreren Kissen im Rücken im Bett, der Sohn auf dem kleinen Damensessel. Draußen ist es hell. Die kleine, welke Hand der Mutter tastet nach der großen, schmalen Hand des Sohnes. Schließlich findet sie sie. Sie hält ihren Sohn bei der Hand. Ihr Griff ist erstaunlich fest. Der Sohn wagt nicht, seine Hand aus ihrer Hand zu befreien. Sie sehen sich nicht an, sie spüren sich nur mit den Händen. Ihrer beider Blicke sind auf das Radio gerichtet, das vor ihnen auf dem Nachtkästchen steht.
    »Weißt du noch, wie wir im Bett die Sendung €›Das Schatzkästlein€‹ gehört haben?«, fragt die Mutter. »Du warst nicht älter als vier. Dein Vater war weit weg, an der Front. Mathias Wiemann war der Sprecher.«
    Da sieht er ihn wieder vor sich, den braunen Kasten, den alten Blaupunkt, nussbaumfurniert, mit dem Schallstoff, in den ein Goldfaden eingewebt ist, der trüben Skalenbeleuchtung, dem roten Zeiger, der leicht zittert, wenn er über die Skala wandert beim Drehen am rechten Knopf, und der dabei über schräge Stapel von Städtenamen gleitet, magische Wörter wie Hilversum, Praha, Beromünster, Kalundborg. Das Wunder der Geräusche, die dabei entstanden und vergingen, Stimmen, Rauschen, Klänge, Brummen, Musik. Ein Riese mit einem großen, grünen, blinzelnden Auge an der Stirn. In seinem Bauch lauter kleine Menschen, Stürme, Regen, Trompeten und Geigen.
    Das Kind weiß, wie es drinnen aussieht. Es gibt dort eine ganze Stadt aus Türmen und Straßen und Häusern. Als der Vater auf Urlaub von der Front zu Hause war, hat er einmal den Kasten umgedreht und die Rückwand abgenommen. Dann hat er mit einem langen Pinsel den Staub herausgewischt, ein sinnloser Akt in diesem Fall, der der Erfahrung des Seemanns entsprang, dass man das Deck eines Schiffes sauber halten muss, um Unfälle zu vermeiden. Danach hat er die Rückwand wieder angeschraubt und das Radio eingeschaltet. Langsam schlug das Tier sein grünes Auge auf, dann erst ein Brummen, und dann diese Stimme, die so schön mit lauter dunklen Worten spielte. ܜber allen Wipfeln ist Ruh. Und plötzlich die Wörter €›Quelle Siegfried Sieben€‹.
    Draußen schrillte die Sirene. Einige Zeit darauf das Bellen der Flak, das dumpfe, monotone Brummen der Bomber, wie eine einzige riesige, schwarze Fliege über den Wolken.
    Später, im Keller, lag er auf der Matratze, die Mutter über sich. Sie schützte ihn mit ihrem Körper. Keine Bombe, kein Volltreffer würde sie besiegen können. Sie war der stärkste Bunker der Welt, ein Schutzraum, in dem er nach Atem rang. Das Pfeifen der Luftminen klang gedämpft. Die Wände bebten, Mörtel fiel herab auf die Steppdecke, die sie über sich und das Kind gebreitet hatte, bestäubte sie grau; bei jeder Detonation stöhnte sie auf. Der Feind hatte es auf ihr Kind abgesehen, aber er hatte nicht mit dieser starken Mutter gerechnet. Die anderen im Keller schrien wie Tiere, als das Licht flackerte. Der Einschlag musste ganz nahe gewesen sein. Im Vorgarten vielleicht, bei den Rhododendronbüschen. Etwas klirrte zu Boden. Dann war es wieder still. Eine ohrenbetäubende Stille hatte eingesetzt. Der

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