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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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der seiner Einschätzung nach bald eintreten wird, und dabei zeigt er mit seiner großen, behaarten Hand zum Küchenfenster, wo der Baum immer mehr verrückt spielt. »Als meine Frau noch lebte - deine Mutter«, er macht eine Pause, die beim Sohn unendliche Schuldgefühle bewirkt, »hat sie immer von hier aus die Trauerzüge beobachtet. Weil unser Haus das letzte ist vor dem Friedhof, waren einige am Ende der Prozession immer schon ziemlich lustig. Deine Mutter hat ihren Spaß daran gehabt. Und wenn die Schlange vorbei war, ist sie ins Badezimmer gegangen und hat alles von dort aus gesehen. Es war eines ihrer Hauptvergnügen, ehe ihr Leiden sie ans Bett gefesselt hat.«
    Der Sohn trinkt mit verwirrtem Kopf den letzten, übersüßten, benebelnden Schluck und sieht ein Bild vor sich, mit sich biegenden Bäumen, einer schwankenden Straßenlaterne und einer Prozession schwarzgekleideter Leute mit ihm selbst an der Spitze, die den Leichnam seines Vaters dort draußen vorbeitragen, und dann rennt er hinüber zum Badezimmer und sieht den Vater verschwinden in seinem schwarzen, schaukelnden Boot in Richtung des Mondes, der schuld ist an den Gezeiten, an diesem ganzen Auf und Ab, das man das Leben nennt in einem Grogglas in der Küche seines Vaters. Und als das Essen schon auf den Tisch kommt, sieht er auf einmal seine Mutter, wie sie im Garten sitzt und redet. Er sieht sie wieder überdeutlich vor sich, ganz realistisch, wie es in Träumen vorkommt.
 
    Der Vater steigt am nächsten Tag in den Keller und holt einen Fuchsschwanz. Er geht ins Schlafzimmer und kniet sich ins Ehebett. Dann beginnt er zu sägen. Er sägt das Fußteil mitten durch. Das edle, rötliche Holz bildet edle, rötliche Späne. Danach kommt das Kopfteil dran. Zuletzt schraubt der Vater zwei rohe Holzklötze als Füße unter das Bettgestell. Er hat nun ein halbes Bett. In dieser Nacht schläft er zum ersten Mal lange und tief.
    Der Sohn ist nach Hause in die Stadt gefahren, in der er lebt. Die drei Rosen hat er mitgenommen. Jetzt stehen sie auf seinem Küchentisch. Der Sohn starrt sie immer wieder an in den langen Momenten, in denen er versucht, an seine Mutter zu denken. Auch nach Tagen lassen sie die Köpfe nicht hängen. Der Sohn wundert sich, welch gute Qualität man für ein Trauergesteck verwendet hat, bis er entdeckt, dass die Stiele mit dünnem, grünem Draht umwickelt sind. Deshalb stehen die Rosen auch noch gerade und unbeugsam in der Vase, als die Blütenblätter zu welken beginnen. Ein brauner Rand bildet sich entlang der Blätter, dringt fleckig vor aus dem Hellrosa ins zarte Gelb. Ein Trauerrand, denkt der Sohn. Wie auf der Todesanzeige, die ihm der Vater schickte. Es wäre gut gewesen, auch deren Rand wäre nach innen gewachsen, hätte Kuvert und Brief von außen nach innen geschwärzt, bis nichts mehr lesbar gewesen wäre.
    Nach drei Wochen stehen die €›Gloria Dei€‹ immer noch auf ihrem Platz. Aber sie verdienen ihren Namen nicht mehr. Die meisten Blütenblätter sind abgefallen, das Wasser ist trübe, auf den nackten Stengeln sieht man braune, verfilzte Staubgefäße, ein Anblick, der den Sohn unangenehm berührt und der etwas mit Augenblicken frühester Kindheit zu tun hat. Schamhaare, Achselhaare, Gefahr ihrer Nähe, süßlich scharfer Geruch, Grax. Immer noch gelingt es ihm nicht, sich das Gesicht der Mutter vorzustellen. Es ist aufgedunsen in der Schwärze, ist selbst Schwärze, Todesschwärze, Geruch von Verwesung aus der Scham.
    Der Sohn schluckt, weil er weinen möchte. Er steht auf, nimmt den verwelkten Strauß aus der Vase und wirft ihn in den Mülleimer. Plötzlich ist es da. In all der Weltraumkälte sieht er es vor sich. Ganz kurz nur, aber so deutlich wie noch nie. Ein Gähnen, das sich dem ganzen Gesicht mitteilt, wie bei einem Kätzchen, das müde ist. In diesem Moment bricht der Damm. Der leere Fluss füllt sich mit Salzwasser, tritt über die Ufer in einer wilden Strömung, die alles mit sich reißt, Schuldgefühle, Hass, Enttäuschung, Liebe.
 

 

Kapitel 30
    D as Bild war fertig. Es zeigte eine junge Frau von Ende zwanzig, Anfang dreißig. Sie trug einen schwarzen Pullover und ein elegantes Pelzcape. Der helle Teint, die hohe runde Stirn, die bogenförmigen, sichtlich gezupften Augenbrauen, der zu einem wissenden Lächeln geschlossene, formschöne Mund, die haselnussbraunen Augen, deren Blick leicht nach oben gerichtet war, als gebe es dort etwas Erfreuliches und zugleich Geheimnisvolles zu sehen, die in weichen
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