Der Strandlaeufer
genommen, dann sei der Atem ausgeblieben. Gegen zehn Uhr abends. Sie habe dagelegen ohne ihren Atem. Da habe er angerufen. Der Arzt sei um Mitternacht gekommen und habe den Totenschein ausgestellt.
Wo er denn geschlafen habe, fragt der Sohn. »Oben«, sagt der andere. »In deinem Bett. Die Beerdigung ist in drei Tagen, du kommst doch sicher.«
»Ja«, sagt der Sohn. »Natürlich.«
Die Glocken beginnen zu läuten, ganz dünn und fern. Auch die Tote hört sie. Sie liegt auf dem Rücken und starrt in die Dunkelheit. Man hat ihr die Augen geschlossen, unsanft die Lider an den Wimpern herabgezogen wie Jalousien, aber kaum war sie allein, hat sie sie wieder geöffnet. Sie lächelt mit ihrem eingeschnürten Mund. Man hat ihr das Gebiss herausgenommen, weil beschlossen wurde, den Leichnam nicht mehr den Hinterbliebenen zu präsentieren. Also konnte man darauf verzichten, das Gesicht herzurichten, die Backen mit Watte zu polstern. Das Gebiss polterte in eine Blechwanne mit einem Klang wie dieses Sterbegeläut. Über ihr die Rosen, über hundert sind es, ›Gloria Dei‹, frisch gesteckt, keine lässt den Kopf hängen wie die beiden Männer, die dem Sarg am nächsten sitzen.
Der Sohn versucht verzweifelt, sich das Gesicht der Frau im Sarg vorzustellen. Während der ganzen Zeremonie gelingt es ihm nicht. Der Mann, der die Rosen bezahlt hat, sieht nichts. Er hält die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt. Er sieht nichts, während die Tote alles sieht. Nur ein dumpfes Gefühl ist da, von Schmerz, der nicht ausbricht. Es ist, wie wenn man sich das Knie aufschürft, die Sekunde danach, ehe der Schmerz einsetzt. Die Sekunde, in der er über der Wunde schwebt in einem fast wohligen Betäubtsein. So fühlt der Mann. Der Sohn neben ihm fühlt den Schmerz wie etwas Verlorengegangenes. Er kämpft um ihn, möchte ihn zurückhaben. Dieser Kloß im Hals ist alles, was der Schmerz ihm hinterlassen hat, das Gewöll einer verspeisten Maus.
Als die Orgel einsetzt mit einem weinerlich näselnden Vorspiel, wird der Kloß im Hals des Sohnes größer. Er drückt ihm die Gurgel von innen ab. Jetzt möchte er weinen können, den Kloß hinausspülen in einem Sturzbach voller Tränen. Er berührt den Ellbogen des Vaters und erschrickt, wie eisig diese Stelle ist.
Als sie in die Kirche gekommen waren, der Sohn beim Mann untergehakt im geliehenen schwarzen Mantel seines Vaters, steif und ungelenk in den Bewegungen, wie Leute, die nach schwerem Krankenlager wieder das Laufen lernen müssen, hatten auf ihren Stühlen je zwei rote Rosen gelegen auf zwei roten Gesangbüchern. Der Sohn weiß, dass es die Rosen für die Graböffnung sind, dass er sie in dieser Stunde noch dort hineinwerfen muss, zwei Rosen, die dann unter der Erde begraben werden, Rosen, die schon die Köpfe hängen lassen, unansehnliche Rosen, nicht für das Auge bestimmt, sondern für die Dunkelheit.
Als der weinerliche, falsche Gesang anhebt, presst der Sohn die Lippen zusammen. Das Gesangbuch hat er vor sich auf den Boden gelegt. Alle anderen haben es in den Händen. Auch der Vater. Aber der singt wenigstens nicht mit. Der Sohn spürt die Augenpaare der Gemeinde im Rücken. Der üble Geruch verordneter Trauer füllt den ganzen Raum. Die Kinnlade des Pastors mit dem Bart daran bewegt sich auf und ab wie bei einem Nussknacker. Die Worte, die er in den Mund nimmt, sind die Nüsse. Es sind ausschließlich taube Nüsse. Sie lassen sich leicht knacken, weil sie leer sind. Es gibt ein hässliches, splitterndes Geräusch. Jedes Mal, bei jedem Wort, das der Pastor sagt.
Später gehen sie hinter dem Sarg her, der Vater und der Sohn. Auf großen weichen Gummirädern rollt der Wagen über den Asphalt, von sechs schwarzgekleideten Männern rechts und links geschoben. »Seit Jahren war sie nicht mehr draußen im Freien«, denkt der Sohn. »Es ist ihre erste Ausfahrt. Warum hat man sie in diesen Kasten gesperrt! Es wäre besser gewesen, sie im Rollstuhl zu ihrem Grab zu schieben.«
Er hat solche verrückten Ideen, weil sie nicht tot genug für ihn ist. Sie stirbt erst ein bisschen weiter, als er das rostige Kinderschäufelchen nimmt und eine Ladung Sand auf den Sargdeckel poltern lässt. Es klingt hohl. Sie hat Dreck nie leiden können. Sie wird sich im Grab umdrehen, denkt der Sohn. Er merkt nicht, dass er lächelt und empörte Blicke ihn streifen.
Später ist das Wohnzimmer voll gestopft mit Schaufensterpuppen, die alle für schwarze Kleidung werben. Der Sohn spielt den Kellner. Er
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