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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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Locken um das Gesicht drapierten rotblonden Haare, all das war so perfekt getroffen, dass ich erschrak.
    Ich beglückwünschte Carla zu ihrem Gemälde. »Du hast sie zum Leben erweckt. Endlich sehe ich sie wieder vor mir, wie sie war, als ich ein Kind war.«
    Carla war jetzt immer häufiger oben auf der Turmplattform. Sie schlief nachts auch dort unter einem Sternenhimmel, wie er nicht schöner sein kann. Sie wollte nicht, dass ich mich zu ihr legte.
    Sie hatte sich ein Fernrohr mit Stativ besorgt und beobachtete damit den Horizont. »Wartest du auf ein Schiff?«, fragte ich.
    »Ja. Auf die Frank Wilson.« Sie lachte und eröffnete mir, sie wolle zu Ehren ihres Urgroßvaters ein Abschiedsessen geben.
    »Was für ein Abschied?«
    »Ich verlasse dich, für immer oder wenigstens für eine längere Zeit. Ich fahre nach Rom. Sie wollen noch mehr Probeaufnahmen machen.«
    Carla servierte auf der Plattform auf einem Benzinkocher gegrillte Sardinen und dazu Weißwein und Brot. Sie war gut gelaunt wie seit langem nicht mehr.
    »Man hat mir eine richtige Rolle im Marconifilm angeboten. Sie wollen diesmal professionelle Probeaufnahmen haben. Deshalb fahre ich in ein Studio in Cinecittie .«
    Ich starrte sie an.
    »Jetzt siehst du aus wie der kleine John Jakob, als er das Feuer im Laderaum entdeckte.«
 
    Ich brachte sie zum Bahnhof. Als ich an diesem Abend spät in der Gorillabar erschien, saßen Franco Celli und Luigi so weit wie möglich auseinander. Ich setzte mich an den dritten freien Tisch und rief die beiden zu mir. »Ich möchte einen ausgeben«, sagte ich. »Ich habe endlich meine Schreibblockade überwunden.«
    Franco Celli setzte sich zu mir. »Der Turm scheint dir gut zu bekommen, Sarazeno«, sagte er. »Hast du Erscheinungen? Hast du Marconi schon gesehen? Oder liegt es an Carla? Ich habe gehört, dass ihr zusammenlebt, allerdings ohne den Segen der heiligen Mutter Kirche!«
    »Ich mache zur Zeit die einmalige Erfahrung, dass man loslassen kann, indem man etwas festhält. Und dass das Umgekehrte genauso funktioniert. Man kann durch Festhalten etwas verlieren.«
    »Und dein großer Roman? Was macht dein großer Roman, Zingaro?«, fragte Luigi. Man sah ihm an, dass er wieder einmal in der Stimmung war, seine Umwelt zu ärgern.
    »Er macht Fortschritte. Ich schreibe jetzt hauptsächlich über meine Eltern und mich. Das hat zwar nichts direkt mit dem Roman zu tun. Aber heißt es nicht, wenn man etwas schreiben will, muss man zuerst sich selber kennen? Und wenn man etwas über sich wissen will, muss man alles wissen, oder man weiß gar nichts. Meine frühesten Erinnerungen sind wie bei allen Menschen Puzzlesteine, die über den Kindertisch der Zeit verstreut nie ein einheitliches Bild ergeben werden, so etwa wie ein Mosaik an einer Kirchenwand. Dennoch habe ich mit ihnen begonnen, in der Hoffnung, dass sie Kristallisationskerne seien für eine Welt, die ich meine Wirklichkeit nennen möchte, wohl wissend, dass Wirklichkeit in diesem Zusammenhang ein Synonym für Träume ist. Träume sind es wohl, die unser Dasein enthalten wie kleine vielfarbige Döschen, in denen man etwas Sinnloses aufhebt, dessen hauptsächliche Qualität es ist, zerbrechlich zu sein.«
    Jetzt setzte sich auch Luigi zu uns. »Du bist ja gut in Form, mein Lieber. Du redest wie ein Buch. Was macht dein Pirat? Wie heißt er eigentlich?«
    »Man kann das Leben mit einem Spiegel vergleichen«, sagte ich, ohne auf die Frage einzugehen. »Er ist zerbrechlich und besteht gewöhnlich aus drei Dingen, dem Glas, der spiegelnden Rückseite aus einer Metalllegierung und dem Rahmen mit der Halterung, an der der Spiegel aufgehängt wird. Unser Körper ist das Glas, die reflektierende Rückseite ist die Erinnerung, der Rahmen besteht aus unserer Weltanschauung, unseren sozialen Beziehungen, den Gewohnheiten und Ritualen unserer Umwelt, unserer Sprache und ähnlichen Vorgaben, die uns ein Leben lang umgeben und eingrenzen. Das Bild im Spiegel aber, das wir sehen, ist unsere geistige Existenz, ist das, was wir unser Ich nennen. Dieser Spiegel ist nicht von Anfang an da. Er wird erst hergestellt im Verlauf unserer frühesten Kindheit. Anfangs ist er blind, reflektiert nichts oder kaum etwas, auch der Rahmen ist noch unfertig. Gegen Ende unseres Lebens wird er wieder blind. Er bekommt jene Fehlerstellen, die typisch sind für alte Spiegel, weil die Metallschicht oxydiert, zerfressen wird, das Glas sich eintrübt. Auch die Leimung des Rahmens leidet. Schließlich
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