Der Strandlaeufer
hat immer noch diesen Kloß im Hals, aber niemand ist da, der Tränen erlaubt. Der Vater sitzt da, mit aufgeregten roten Backen erzählt er Familiengeschichten. Auch er schluckt dabei, wie jemand, der Halsweh hat. Es ist der gleiche Kloß. Wären sie jetzt allein, würden sie sich in den Armen liegen und ihren Tränen freien Lauf lassen. Aber Beerdigungszeremonien sind dazu da, keine Gefühle aufkommen zu lassen.
Einmal stiehlt der Sohn sich davon. Er eilt zum nahen Friedhof. Das Grab ist bereits zugeschüttet. Die Kränze und Gestecke bilden einen großen, fröhlichen, bunten Hügel. Der Sohn steht starr. Noch einmal versucht er, sich ihr Gesicht vorzustellen. Aber es geht nicht. Zu viel Erde, zu viel furniertes Holz ist dazwischen. Da kommt ihm ein Gedanke.
Er beugt sich vor, zieht drei ›Gloria Dei‹ aus dem Gesteck und nimmt sie mit. Er tut es vor den Augen der Friedhofsbesucher. Es ist ein Grabfrevel, den er gerne begeht.
Am Tag nach der Beerdigung sitzt der Vater allein in der Küche und isst. Gleich nach dem Essen ist er wieder hinter dem Haus. Er beginnt, im Garten zu arbeiten, obwohl ihm diesmal keine rehbraunen Augen durch die feinen Tüllvorhänge des Schlafzimmerfensters bei der Arbeit zusehen. Zeit verstreicht, abgestorbene Zeit, so wie Haare aus der Kopfhaut eines Toten wachsen. Später räumt der Vater in der Küche auf. Die Schublade des Küchentisches steht weit offen. Der Vater stellt sich an die Spüle und trocknet das Besteck ab. Messer, Gabel, Löffel. Sie verschwinden einzeln in den Falten des karierten Handtuchs, tauchen wieder hervor und fliegen durch die Luft. Jedes Mal klirrt es laut, wenn der Vater wie ein Basketballspieler mit dem trockenen Besteck in die Schublade trifft. Sie ist dreigeteilt. Das linke Fach ist für die Messer, das mittlere für die Löffel, das rechte für die Gabeln. Dem Sohn tun die Löffel Leid. Sie sind am wenigsten geachtet, und sie sind von den anderen Besteckkategorien flankiert. Der Sohn lehnt am Küchenschrank und ist zur Untätigkeit verdammt, denn der Vater hat sein Angebot, abzutrocknen, abgelehnt. Nun hört er dem Klirren der Besteckteile zu. Der Vater hat fast nie einen Fehlwurf. Wenn aber doch einmal zum Beispiel ein Messer bei den Löffeln landet, stürzt der Sohn hinzu und rettet das Instrument augenblicks aus der falschen Umgebung. Und plötzlich versteht er, dass es mit der Trinität seine Richtigkeit hat. Messer, Löffel, Gabel, das sind Vater, Sohn und Heiliger Geist. Und noch etwas wird ihm klar. Der Heilige Geist ist die mehrzinkige Mutter. Sie ist es, die alles zusammengehalten hat. Solche etwas verworrenen Gedanken kommen dem Sohn, während er am Küchenschrank lehnt und dem Vater zusieht, wie er wieder und wieder mit dem Besteck in die Schublade trifft. Einmal hat er Pech. Der metallische Gegenstand prallt gegen den Schubladenrand und fällt klirrend auf den Küchenboden. Ehe der Vater zur Stelle ist, hat sich der Sohn blitzschnell gebückt und das Opfer aufgehoben. Es ist ein kleiner, schäbiger Löffel. Er ist verbogen und trägt noch die Spuren von Milchzähnen. Der Sohn tut so, als lege er ihn zu den anderen Löffeln in das Löffelfach, aber während der Vater ihm wieder den Rücken zukehrt, um diesmal ein großes Küchenmesser abzutrocknen, steckt der Sohn seinen alten Kinderlöffel heimlich in die Hosentasche.
Das Radio hat Regen angekündigt. Der Himmel ist dunkelgrau. Vom Westen her ziehen tiefliegende Wolken mit ausgefransten Rändern heran. Der Vater steht im Garten und sprengt. Während er herumgeht und den Wasserstrahl mal gegen die Rhododendren, mal gegen die Rosen oder den Hibiskus richtet, entringelt sich die grüne Schlange des Gartenschlauches hinter ihm. Der Sohn beobachtet dieses Bild von der Dachgaube seines Zimmers aus. Als die ersten Tropfen fallen, bleibt der Vater stehen. Er blickt zum Himmel. Es ist ein misstrauischer Blick. Dann geht er hinüber zu den Rosen und richtet den wenig zerstäubten Strahl auf sie, so dass sie ihre roten und gelben Häupter neigen und einzelne Blütenblätter zu Boden gleiten. Es regnet immer stärker, aber der Mann kümmert sich nicht darum. Er hört nicht auf, den Garten mit kalkhaltigem Leitungswasser zu tränken. Der Sohn sieht mit wachsendem Ärger dabei zu. Warum macht er das, fragt er sich, er, der sonst so sparsam ist und jeden Pfennig herumdreht, warum überlässt er jetzt nicht den Wolken die Arbeit! Inzwischen schüttet es regelrecht, und die dünnen Haare des Vaters
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