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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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verrottet die Aufhängungsvorrichtung, der Spiegel fällt herunter und zerbricht in tausend Scherben. Sie liegen am Boden, sinnlos, sie aufzusammeln und zusammenkitten zu wollen. Aber noch spiegeln die meisten von ihnen etwas, einen winzigen Ausschnitt der Welt. Das, was nach den Gesetzen von Einfalls- und Ausfallswinkel das Auge eines fremden Betrachters zufällig erreicht. Mein Vater ist übrigens derzeit dabei, sämtliche Scherben seiner Erinnerung einzusammeln.«
    Celli und Luigi hörten mir tatsächlich zu. Niemand fiel mir ins Wort. Das hatte ich noch nie erlebt. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Mann trat ein. Er war groß, hatte einen eisgrauen Bart und lange, graue, gewellte Haare. Er ging mit leicht unsicheren Schritten, ein wenig humpelnd zum Schirmständer an der Garderobe, ließ seine Hose herunter und machte sich an seinem rechten Bein zu schaffen. Er schnallte es ab und steckte es in den Ständer. Dann hüpfte er einbeinig zum Tresen, drehte uns den Rücken zu und trank ein Bier nach dem anderen. »Er ist neu hier«, flüsterte Luigi. »Er soll zu den Filmleuten gehören.«
    »Die drehen aber doch keinen Piratenfilm. Warum hat er sein Bein abgeschnallt?«, flüsterte ich.
    »Wahrscheinlich tut ihm der Stumpf weh, das stört ihn beim Trinken«, flüsterte Celli.
    Der Einbeinige ließ sich noch ein Bier zapfen und trank das Glas in einem Zug leer. Dann drehte er sich um und blickte mich an, wie man einen Geist betrachtet, an dessen physische Existenz man unmöglich glauben kann. ܜberrascht und zugleich amüsiert. »Ich kenne Sie«, rief er plötzlich laut zu mir herüber. »Sie kennen mich auch! Erinnern Sie sich nicht? Damals in den Dünen auf Sylt. Sie sind ein paar Mal an mir und meinem Schloss vorbeigegangen und haben fotografiert.«
    Er hüpfte an unseren Tisch, ließ sich ein neues Bier bringen und sah mich herausfordernd an.
    »Lässt Sie Ihr Gedächtnis etwa im Stich? Sie waren damals mit einer Frau zusammen. Sie war groß und hatte lockige Haare. Sie sind erst vorbeigegangen, dann haben Sie angehalten und sind zurückgekommen. Wahrscheinlich haben Sie in mir und meiner Burg ein interessantes Motiv gesehen.«
    Jetzt sah ich die Situation wieder vor mir. Am Rand der Dünen hatte jemand aus Treibholz ein großes Gebäude errichtet mit einem Palisadenzaun. Auf den Brettern steckten rosafarbene Gummihandschuhe, wie sie zuweilen antreiben. Das Gebäude erinnerte an ein Schiff. Es hatte einen hohen Mast, zu dem Taue mit Wimpeln führten, alle aus blauer und weißer Plastikfolie. ܜberall Fundsachen, Fischerkugeln, bizarre, von der See geschälte Baumwurzeln, Federn und Skelette von Vögeln, sonnengedörrte Fischkadaver. Ein Gesamtkunstwerk, wie es Luigi in Begeisterung versetzt hätte. Auf einer Art Hochstand saß er, ein massiger, einbeiniger Mann, mit einem mächtigen, weißen, vom Wind zerzausten Bart. Er hatte mich damals an eine biblische Gestalt erinnert, an Moses oder noch besser an Noah, der hier mit seiner Arche gestrandet war.
    »Ist Ihr Vater krank?«
    »Ja, er hat Krebs. Wie kommen Sie darauf?«
    »Sie sehen wie ein leidender Sohn aus, wie ein Gekreuzigter. «
    »Gehören Sie zu der Filmcrew?«
    »Ja. Ich bin Koordinator des Teams. Menschen wie ich werden zuweilen gebraucht, wenn viele Leute erfolgreich an einer Sache zusammenarbeiten sollen.«
    Er erhob sich, hüpfte an den Tresen zurück, zahlte, holte sein Holzbein, zog ungeniert seine Hose aus, schnallte es an und ging.
    Ich bestellte uns allen einen doppelten Whisky. Dann lauschte ich auf das Geräusch der fernen Brandung, die heute so stark war, dass sie die Felsen bis hierher erzittern ließ.
 

 

Kapitel 31
    E s sind Jahre vergangen. »Mein Vater hat Angst«, schreibt der Sohn, als er wieder einmal zu Besuch bei seinem Erzeuger ist. Er schreibt es in seinen Notizblock mit seiner ungeübten Schrift.
    Es ist eine besondere Angst. Sie kennt ihren Gegenstand nicht, das macht sie so namenlos tief. Jeden Abend schließt der Vater wie immer die Türen ab, überall. Die Tür zur Kellertreppe, die Tür zum Klo, dessen Fenster vergittert ist, die Küchentür, als müsse man damit rechnen, dass jemand durch das von Eiben verdunkelte Fenster einsteigen könnte. In Wahrheit ist der Dieb längst drinnen, und der Vater versucht vielleicht nur, ihn am Ausbruch zu hindern, weil er etwas gestohlen hat, das man Leben nennt.
    Alles ist aufgeräumt in der Wohnung des Vaters. Seit seine Frau tot ist, hat er ihr Vermächtnis bewahrt.
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