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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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kleben ihm am Schädel. Ist er so dickköpfig, fragt sich der Sohn, ist es sein Altersstarrsinn? Er öffnet das Fenster und brüllt hinunter: »Du brauchst nicht mehr zu sprengen! Es regnet genug!« Wie angewurzelt bleibt der Vater stehen. Der harte Strahl in seiner abgesenkten Hand fährt wie eine Geschossgarbe in den Rasenboden, so dass Erde und Grashalme aufwirbeln. Dann dreht er den Kopf, hebt ihn suchend, um herauszufinden, woher die Stimme kommt. Der Sohn ruft noch einmal: »Es regnet, du brauchst nicht mehr zu sprengen!« Jetzt hat der Blick des Vaters den Sohn erfasst. Den Körper leicht gekrümmt, das fahle Gesicht vom gestutzten weißen Bart umrahmt, sagt er mit einer wegwerfenden Bewegung seiner freien, linken Hand: »Das bisschen Regen, das nützt ja doch nichts.«
    Jeden Vormittag ab Punkt elf stehen zwei leere Groggläser auf dem Tisch mit zwei Glasstöpseln darin. Auf dem Herd dampft ein Wasserkessel aus der Tülle. Auf den Zentralheizungsrippen liegt eine Flasche Rum quer, um vorzuwärmen, obwohl Sommer ist und die Heizung ausgeschaltet. Eine blauweiße Süßstoff- und eine rote Zuckerdose sind ebenfalls anwesend, Erstere in Reichweite des Vaters, Letztere in Reichweite des Sohnes. Der Vater sitzt sehr gerade auf dem Küchenstuhl und wartet, dass eingeschenkt wird. Der Sohn nimmt den Kessel von der Herdplatte und nähert dessen dampfende Tülle dem Glas des Vaters. Da hält der Vater plötzlich seine breite, behaarte Hand über das Gefäß, so dass der Sohn den Kessel zurückstellen muss. »Erst den Zucker«, sagt er. Immer beginnt es mit dieser Niederlage für den Sohn, der etwas falsch gemacht hat, ein Ritual gestört, jetzt einen halben Löffel Zucker in sein Glas rieseln lässt, während der Vater zwei Süßstofftabletten in das andere Glas wirft. Völlig geräuschlos, wie der Sohn fasziniert feststellt. Nun endlich darf er einschenken, aber wehe zu viel oder zu wenig. Es ist jedes Mal eine Gratwanderung, die dem Sohn volle Konzentration abverlangt. Befindet sich der helle Grenzstrich zwischen Wasser und Luft nur einen Millimeter zu hoch, schüttelt der Vater ungehalten den Kopf. Das Gleiche gilt für das Gegenteil. Flut und Ebbe, Hoch- und Niedrigwasser, es sind Marken, die über die Menge an zufüllbarem Rum entscheiden, und der Vater ist in dieser Sache ein wahrhaft unbarmherziger Hydrograph. Den Rum schenkt der Vater ein, nachdem er den Schraubverschluss mit einer ruckartigen Bewegung abgedreht hat, mit der man spielend einem starken Gegner den Hals hätte umdrehen können. Er schenkt immer bis drei Millimeter unter dem Glasrand ein. Mäandernd und Schlieren bildend, strömt der Alkohol in das heiße Wasser, dann taucht der Glasstöpsel ein und verwirbelt Wasser, Rum und Zucker zu einer bernsteinfarbenen homogenen Flüssigkeit, die unter dem sachkundigen Blick des Alten nun ihrer Bestimmung zugeführt werden muss.
    »Prost«, sagt der Vater, »Besanschot an«, und hebt sein übervolles Glas, ohne einen Tropfen zu verschütten. Dem Sohn gelingt dieses Kunststück meistens nicht. Auch diesmal schwappt ein wenig Flüssigkeit über den Rand. Eine kleine, hellbraune Pfütze entsteht auf der Resopalplatte, die der Vater sofort mit einem Spüllappen beseitigt, während der Sohn ebenfalls »Prost« sagt und einen großen Schluck abtrinkt, damit ihm das Malheur nicht noch einmal passiert.
    »Wie geht es dir?«, fragt der Vater, als das zweite Glas an der Reihe ist. Diesmal hat der Sohn keinen Tropfen verschüttet. »Gut«, sagt er, und es klingt, als habe er sich an einem harten Gegenstand gestoßen. Genau eine halbe Stunde haben sie Zeit, denn um Punkt zwölf wird es das Mittagessen geben, das auf einer niedrig gestellten Herdplatte vor sich hinköchelt. In dieser halben Stunde trinken sie jeder vier Gläser, und jedes Mal muss das mittlere Hochwasser im Glas um ein bis zwei Millimeter niedriger eintreten. Beim vierten Glas ist die Tide um einen guten Zentimeter unter Normal gefallen. Es ist Nippzeit, halb Wasser, halb Rum.
    Der Vater ist erst stumm. Er starrt vor sich hin in das Glas und redet vermutlich unhörbar mit sich selbst. Der Sohn kämpft gegen die Trunkenheit, die in ihm die Proportionen der Dinge verändert. Die Bäume draußen wedeln mit ihren Zweigen gegen das Fenster, die Kunststofflampe an der Decke segelt in kleinen Kreisen um ihren Baldachin. Dann redet der Vater plötzlich hörbar. Er redet vom Tod. Er redet und redet wie ein Buch, vom Leben und Sterben seiner Frau, von seinem Tod,
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