Der Streik
verdient, eben weil er sie nicht verdient hat – das wäre wahre Liebe und Güte und Brüderlichkeit. Wofür ist die Liebe sonst da? Wenn ein Mann einen Job verdient hat, ist es keine Tugend, ihn ihm zu geben. Tugend bedeutet, das Unverdiente zu geben.“
Er sah sie an wie ein Kind, das einen ungewohnten Alptraum erlebt, seine Ungläubigkeit verhinderte das Entsetzen darüber. „Mutter“, sagte er langsam, „du weißt nicht, was du da sagst. Ich wäre niemals in der Lage, dich genug zu verachten, um zu glauben, dass du das ernst meinst.“
Ihr Blick erstaunte ihn mehr als alles andere: Es war ein Blick der Niederlage, und dennoch lag eine seltsame schlaue und zynische Gerissenheit darin, als verfügte sie über eine Lebensklugheit, die sich über seine Naivität lustig machte.
Die Erinnerung an diesen Ausdruck blieb ihm im Gedächtnis wie ein Warnsignal, das ihm sagte, dass er einen Blick auf etwas erhascht hatte, das er ergründen musste. Aber er konnte sich damit nicht befassen; er konnte seinen Verstand nicht zwingen, es für würdig zu befinden, darüber nachzudenken; er konnte keinen anderen Anhaltspunkt finden als dieses schwache Gefühl des Unbehagens und der Abscheu – und er hatte keine Zeit dafür, er sah sich bereits dem nächsten Besucher gegenüber, der vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte – er hörte einen Mann an, der um sein Leben flehte.
Der Mann drückte es nicht auf diese Weise aus, aber Rearden wusste, dass dies der Kern der Angelegenheit war. Was der Mann in Worte fasste, war nichts anderes als eine Bitte um fünfhundert Tonnen Stahl.
Es war Mr. Ward von der Ward Harvester Company, die in Minnesota Erntemaschinen herstellte. Seine Firma war bescheiden, genoss einen tadellosen Ruf und zählte zu jenen Unternehmen, die selten groß werden, aber nie scheitern. Mr. Ward vertrat die Familie, der die Fabrik in der vierten Generation gehörte und die gewissenhaft das Beste, was an Fähigkeiten in ihr steckte, für die Firma gegeben hatte.
Er war ein Mann in den Fünfzigern und hatte ein kantiges, stoisches Gesicht. Wenn man ihn ansah, wusste man sofort, dass er es als ebenso unangebracht erachtete, in seinem Gesicht zu zeigen, was er litt, wie sich in der Öffentlichkeit zu entkleiden. Er sprach auf eine trockene, geschäftsmäßige Art. Er erklärte, dass er wie sein Vater immer mit einem jener kleinen Stahlhersteller gearbeitet hatte, die nun von Orren Boyles Associated Steel übernommen worden waren. Auf seine letzte Stahlbestellung hatte er ein Jahr lang gewartet. Die letzten Monate hatte er damit verbracht, um ein persönliches Gespräch mit Rearden zu kämpfen.
„Ich weiß, Mr. Rearden, dass Ihr Werk voll ausgelastet ist“, sagte er, „und ich weiß auch, dass Sie unmöglich neue Kunden annehmen können, wenn Ihre größten, ältesten Kunden warten müssen, bis sie an der Reihe sind, nachdem Sie der einzig vernünftige – ich meine verlässliche – Stahlproduzent sind, der in diesem Land noch übrig ist. Ich weiß nicht, welchen Grund ich Ihnen nennen könnte, warum Sie in meinem Fall eine Ausnahme machen sollten. Aber ich kann nichts anderes tun, außer die Tore meiner Fabrik für immer zu schließen, und ich“ – ein schwacher Bruch war in seiner Stimme zu hören – „ich kann mich mit der Vorstellung nicht abfinden, die Tore zu schließen … noch nicht … daher dachte ich, ich spreche mit Ihnen, auch wenn ich keine großen Chancen habe, aber trotzdem musste ich alles versuchen.“
Das war eine Sprache, die Rearden verstand. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen weiterhelfen“, sagte er, „aber dies ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt für mich, wegen eines sehr großen, sehr speziellen Auftrages, der vor allem anderen Vorrang hat.“
„Ich weiß. Aber würden Sie mir trotzdem einfach nur zuhören, Mr. Rearden?“
„Selbstverständlich.“
„Wenn es eine Frage des Geldes ist, zahle ich alles, was Sie verlangen. Wenn es sich so für Sie lohnt, nun, berechnen Sie mir jeden Zuschlag, der Ihnen gefällt, berechnen Sie mir das Doppelte des regulären Preises, nur geben Sie mir den Stahl. Es würde mich nicht kümmern, wenn ich die Erntemaschinen dieses Jahr mit Verlust verkaufen müsste, wenn ich nur die Firma am Laufen halten kann. Ich persönlich besitze genug, um die Firma über zwei Jahre mit Verlusten weiterführen zu können, falls erforderlich, nur um durchzuhalten – weil ich annehme, dass die Dinge nicht mehr lange so weitergehen können, die
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