Der Streik
schoss ihm durch den Kopf, die so klar auf der Hand lag, dass er sich nicht erklären konnte, wie jemand sie übersehen konnte. Der Gedanke brach in einem Ausruf der Verwirrung aus ihm hervor: „Aber er hat keine Ahnung vom Stahlgeschäft!“
„Was hat das damit zu tun? Er braucht einen Job.“
„Aber er könnte die Arbeit nicht erledigen.“
„Er muss sein Selbstvertrauen stärken und das Gefühl haben, wichtig zu sein.“
„Aber er wäre zu nichts nutze.“
„Man muss ihm das Gefühl geben, dass er gebraucht wird.“
„Hier? Wozu könnte ich ihn gebrauchen?“
„Du stellst jede Menge Fremde an.“
„Ich stelle Männer an, die etwas produzieren. Was hat er zu bieten?“
„Er ist dein Bruder, oder nicht?“
„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“
Nun war sie es, die ihn ungläubig anstarrte, wortlos vor Entsetzen. Einen Augenblick lang saßen sie da und sahen einander an, als lägen Lichtjahre zwischen ihnen.
„Er ist dein Bruder“, sagte sie, und ihre Stimme klang wie eine Schallplatte, die einen Zauberspruch wiederholte, den sie sich selbst nicht erlaubte anzuzweifeln. „Er braucht seinen Platz in der Welt. Er braucht ein Gehalt, damit er das Gefühl hat, dass das Geld, das er bekommt, ihm zusteht und kein Almosen ist.“
„Ihm zusteht? Aber er wäre für mich keine fünf Cent wert.“
„Ist es das, woran du als Erstes denkst? An deinen Gewinn? Ich bitte dich darum, deinem Bruder zu helfen, und du überlegst, wie du aus ihm Profit schlagen könntest, und du willst ihm nicht helfen, es sei denn, es springt dabei Geld für dich heraus – verstehe ich dich richtig?“ Sie sah den Ausdruck in seinen Augen und sah weg, sprach aber eilig, mit lauter werdender Stimme: „Ja, natürlich, du hilfst ihm – wie du jedem dahergelaufenen Bettler helfen würdest. Materielle Hilfe – das ist alles, was du kennst oder verstehst. Hast du dir jemals über seine geistigen Bedürfnisse Gedanken gemacht und darüber, wie sich seine Lage auf seine Selbstachtung auswirkt? Er möchte nicht das Leben eines Bettlers führen. Er möchte von dir unabhängig sein.“
„Indem er von mir ein Gehalt bekommt, das er nicht verdient, für eine Arbeit, die er nicht beherrscht?“
„Es würde dir niemals fehlen. Du hast genug Leute hier, die Geld für dich machen.“
„Forderst du mich auf, ihm dabei zu helfen, einen derartigen Schwindel zu inszenieren?“
„So darfst du es nicht sehen.“
„Es ist doch ein Schwindel, oder nicht?“
„Das ist der Grund, warum ich mit dir nicht reden kann – weil du kein Mensch bist. Du hast kein Mitleid mit deinem Bruder, kein Gefühl für ihn, kein Gespür für seine Gefühle.“
„Ist es nun ein Schwindel oder nicht?“
„Du hast kein Mitleid mit irgendjemandem.“
„Denkst du, dass ein solcher Schwindel gerecht wäre?“
„Du bist der unmoralischste Mensch auf Erden – du denkst an nichts anderes als an Gerechtigkeit. Du empfindest kein bisschen Liebe!“
Er erhob sich mit der abrupten und betonten Bewegung, mit der er gewöhnlich ein Gespräch beendete und einen Besucher aus seinem Büro schickte. „Mutter, ich leite ein Stahlwerk und kein Bordell.“
„Henry!“ Der Aufschrei der Empörung galt lediglich seiner Wortwahl.
„Sprich nie wieder mit mir über eine Stelle für Philip. Ich würde ihn noch nicht einmal die Asche zusammenkehren lassen. Ich würde ihn nicht in meinem Werk dulden. Ich möchte, dass du das verstehst, ein für alle Mal. Du kannst versuchen, ihm auf jede erdenkliche Weise zu helfen, aber ich möchte nicht, dass du mein Werk als ein Mittel dazu betrachtest.“
Die Falten ihres schwammigen Kinns zerflossen zu einem höhnischen Lächeln. „Wofür hältst du dein Stahlwerk – für eine Art heiligen Tempel?“
„Hm … ja“, sagte er mild, überrascht von diesem Gedanken.
„Denkst du denn nie an die Menschen und deine moralischen Pflichten?“
„Ich weiß nicht, was du unter Moral verstehen möchtest. Nein, ich denke nicht an die Menschen – nur dass ich, wenn ich Philip eine Stelle geben würde, keinem qualifizierten Menschen mehr in die Augen sehen könnte, der Arbeit braucht und sie verdient hätte.“
Sie erhob sich. Sie hatte den Kopf zwischen ihre Schultern gezogen, und selbstgerecht und bitter schleuderte sie seiner großen, aufrechten Gestalt entgegen: „ Das ist genau deine grausame Art, das Gemeine und Selbstsüchtige an dir. Wenn du deinen Bruder liebtest, würdest du ihm eine Stelle geben, die er nicht
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